Freitagsgedanken (Folge 6): Der "damische Depp" und die Kultur

von Clara Fiedler

Wenn man in der Wikipedia den Begriff „Kultur“ eingibt, stößt man in dem Artikel auf die Formulierung  „Formende Umgestaltung eines gegebenen Materials“. Manche Leute versuchen demnach in ihrer Beziehung einen Kulturvollzug, scheitern dabei und sagen dann, er oder sie war nicht der oder die Richtige.

Münchner Kultur ist beides: Hofbräukeller und Philharmonie; Foto:fie

Können Kulturschaffende das auch? Kann ein Musiker sagen, das Instrument stimmte nicht? Kann ein Schauspieler sagen, die Rolle hat nicht gepasst. Redet ein Schriftsteller jemals davon, dass das Thema seines Buches nicht das Richtige war? In den seltensten Fällen, denn meistens kann sich ein Kulturschaffender in dieser Hinsicht einfach umentscheiden. Andernfalls muss er etwas anderes formend umgestalten, nämlich die Einstellung zum gegebenen Material.

Und das tun wir jeden Tag mit allem. Das gegebene Material ist überall. Wir formen es für uns selbst. Denn Kultur ist nicht nur etwas, das einen Denkanstoß gibt, sondern auch etwas, das Freude machen sollte. Bedeutet Kultur also eine Entscheidung? Und ist dann Kultur etwas, woran wir unsere Willensfreiheit erfahren könnten, wenn wir denn wollten? Ist Kultur demnach alles, und nichts als eine Herausforderung an uns, das einzige Material zu formen, das zu formen wir auf der Welt sind: uns selbst?

Bevor ich mir hier die Kant-e gebe, fangen wir doch gleich an zu formen und zwar mit dem, was für uns Journalisten das täglich Brot ist: Sprache. Wenn ich mich als waschechter Bayer definiere, werde ich niemanden mit „Sie sind ein Vollidiot“ beschimpfen (stimmhaftes „s“ beachten!), sondern ein beherztes „Du damischer Depp, du! Sauhund, verreckter!“ von mir geben. Ich finde das wunderschön. Mindestens so schön, wie ein gutes Musikstück. Aber vielleicht bin ich da zu sehr in meiner Kultur verwurzelt.

Wir Deutschen haben dem Wort „Kultur“ ohnehin eine interessante Umformung gegeben. Gibt es eine andere Sprache, in der das Wort diesen intellektuellen Beigeschmack hat? Bezeichnet es nicht eher eine Lebensweise, ein Brauchtum? Wenn ich in der Bretagne um etwa 11 Uhr morgens in eine versiffte Bar kam und an der Theke zwei dickliche Herren in Unterhemd und Jeans sah, die Zeitung lasen oder sich in einem etwas dreckig gefärbten Französisch unterhielten, und gelegentlich einen Schluck von einem giftgrünen Getränk runterkippten, das sich „Menthe“ nennt, dann war das für mich ein Stück Kultur. Hier in heimatlichen Gefilden würde kein Mensch auf die Idee kommen, ein solches Phänomen als Kultur zu bezeichnen. Kultur wird hier eigentlich mit Kunst gleichgesetzt. Aber das wäre genau dasselbe, wie wenn man behaupten würde, nur ein Ferrari sei ein Auto.

Und dann gibt es da die Meister der Umkehrung, diese unheimlichen Hexer, die es schaffen, etwas, was einmal Kultur war, in eine Karikatur zu verwandeln und sich damit immer wieder grandios selbst zu übertreffen. Ich nenne nur ein paar Namen: Wildecker Herzbuben, Hansi Hinterseer…Faszinierend!

Die Frage zum Freitag, die hoffentlich das Wort zum Sonntag hervorbringt, ist also: Ist alles, wirklich alles, was wir denken „Kultur“ im Sinne einer Umgestaltung der Tatsachen für uns selbst? Die Entscheidung, zu denken „Die Sonne scheint“ oder „Ich hasse diese Hitze“? Ich weiß es nicht, aber diese Überlegung provoziert den Gedanken, dass Kultur das Gegenteil von Gleichgültigkeit ist. Und damit sind wir doch weitgehend einverstanden.

Veröffentlicht am: 26.08.2011

Über den Autor

Clara Fiedler

Redakteurin

Clara Fiedler ist seit 2011 beim Kulturvollzug.

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Ingo-Wolf Kittel
26.08.2011 11:27 Uhr

\\\"Traditionen\\\" gehören sicher zur Kultur - bayerische Folklore etwa zur hiesigen Landeskultur - und die dazu gehörige Ausdrucksweise zu der Sprachkultur, die dabei von klein auf eingeübt und dann weiter gepflegt wird. \\\"Kultur\\\" ist der Idee und vermutlich auch der \\\"Tat\\\"-Sache nach dann alles, was nicht von Natur aus da, angeboren etwa und damit bei Geburt schon vorhanden, sondern von uns dem von Natur aus Vorhandenen oder sich Entwickelnden Hinzugefügtes. Kultur in diesem weiten Sinn könnte dann mit der Herstellung von Faustkeilen begonnen haben und der mit ihnen und dem Gebrauch von Feuer möglichen Eßkultur - seit neusten Meldungen möglicherweise schon vor zwei Millionen Jahren, während die bewusste Kulturentwicklung von dem verstorbenen Princeton-Psychologen und Bewusstseinsforscher Julian Jaynes wesentlich kürzer angesetzt wird: auf gerade mal gut fünftausend Jahre... (s. http://www.integraleweltsicht.de/Veranstaltungen/Kittel.pdf )