Jubiläums-Ausgabe von Spielart - die Bilanz

Wellness mit Rimini, aber auch viel dunstiges Dunkel

von Gabriella Lorenz

Philipp Quesne, "Swamp Club". Foto: Martin Argyroglo

Sehr durchwachsen ging Münchens großes Theaterfestival zu Ende: Die Unterschiedlichkeit der letzen Gastspiele ist durchaus repräsentativ für die zehnte Spielart-Ausgabe. Die Welt ist in den vergangenen 20 Jahren immer disparater geworden, die Aufführungen bilden das ab. Auch leisteten sich die Festivalmacher Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger diesmal so viele Koproduktionen wie nie zuvor. Die Risikobereitschaft zur Katze im Sack sorgte aber auch für herbe Enttäuschungen.

Wie bei „Normarena“ des Wiener Medienkünstlers Jan Machacek. Da dreht sich ein sehr ästhetisches Karussell aus Milchglas-Stelen im Kreis, und darin, daneben oder per Video liefert der Schauspieler Max Mayer routiniert das prätentiöse Geschwurbel einer Jelinek-Epigonin ab. War da inhaltlich was? Über Normen oder Normalität? Kaum draußen, hatte man's vergessen.

Beinahe ebenso spurlos blieb „We disappear“. Denn im dunstigen Dunkel passiert fast wortlos fast nichts. Das aber in epischer Länge und Langsamkeit. Hunderte Ping-Pong-Bälle werden in Eimern gesammelt, vier Riesen-Ballons aufgeblasen und mit Rauch gefüllt, bis alles vernebelt  und am Ende sogar zugeschäumt ist. Soll laut Programm angeblich was mit Immunabwehr zu tun haben. Man wünscht sich bald (und vergeblich), die vier stummen deutschen Jung-Performer hielten ihr Versprechen, zu verschwinden.

Heftig und verstörend zur Sache ging's dagegen unter dem harmlosen Titel „Wellness“: Florentina Holzinger und Vincent Riebeek aus Amsterdam inszenierten eine böse, irrwitzige Kritik am Fitness-, Schönheits- und Therapie-Wahn. Vier Fitness-Jünger arbeiten sich unter den strengen Anweisungen einer exotischen Guru-Göttin ab an ihren Körpern - vom Show-Tanz bis zum Exzess. Die Domina verspritzt aus ihrem Kunstbusen Öl und befiehlt „Relax your anus.“ Vier glitschige nackte Leiber verknäueln sich in einer immer wilderen Sexorgie so obszön, dass man nicht weiß, was man mehr bewundern soll: den Mut zur Exhibition oder das physische Durchhaltevermögen. Das Erstaunliche: Die völlig schamfreie Radikalität der Darsteller lässt kein Gefühl der Peinlichkeit zu. Bis die erschöpften Öl-Bodies dann aber zum Ende, nun versaut und verdreckt mit Erde, wieder den Show-Dance vom Anfang zelebrieren, zieht sich's ziemlich. Doch davor hat sich schon jedes Wellness-Gefühl in Schock-Starre verwandelt.

Nature Theatre of Oklahoma, "Life & Times". Foto: Reinhard Werner

Das war eines der diesmal raren Fundstücke unter den hier noch unbekannten Festival-Gästen. Für die Highlights sorgten doch eher die bekannten Namen wie Rimini Protokoll mit den fabelhaften „Situation Rooms“, das Nature Theater of Oklahoma mit „Life & Times“ oder Gob Squad mit „Western Society“. Seit dem letzten Spielart-Festival  kennt man auch den Belgier Philipp Quesne und sein Vivarium Studio. Der geschmolzene Schnee aus „La Mélancolie des dragons“ befeuchtet jetzt ein Sumpfgebiet. Dort hat sich der „Swamp Club“ etabliert, eine alternative Künstlerkommune und Resort für kreative Gäste. Ein Vivarium ist eine Tierhaltungsanlage - bei Quesne ist der Mensch das Tier, das in einem Glashaus im Sumpfland lebt und zwischen Hightech-Studio mit dampfender Sauna, dicht bepflanztem Pool und perfekt ausgebauter Grotte Harmonie mit der Natur sucht.

Quesne entwickelt seine Banaltexte immer mit den Schauspielern - deshalb sind sie so hinreißend echt wie die ganze liebenswert weltfremd-verschlafene Gemeinschaft. Ein Streichquartett spielt Schubert, neue Gäste werden herumgeführt. Als ein kranker Riesenmaulwurf, einem Märchen entsprungen, Gefahr ankündigt, bestätigt durchs näherrückende Dröhnen von Abrissbaggern, tritt ein naiver Abwehrplan in Kraft. Mit Sturmkapuzen und langen Stangen schleicht man herum wie in einem Bruegel-Bild, rettet Pflanzen und Tierattrappen ins Glashaus und zündet Feuerwerkskörper. Das ist alles völlig hirnrissig und dabei von bezwingender Psycho-Logik, die auch dem surrealen Maulwurf ganz selbstverständlich Platz bietet. Ein wunderschöner, poetischer Festival-Abschluss.

Gob Squad "Western Society". Foto: David Baltzer

Übrigens: Tilmann Boszat und Gottfried Hattinger, die Spielart seit Beginn leiten, werden es auch 2015 wieder kuratieren. Eine solche Kontinuität über 22 Jahre ist im europäischen Festivalzirkus wohl einmalig.

Veröffentlicht am: 02.12.2013

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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