Kammerspiele mit "sibirischem Zirkus"

Macho-Show in der Sauna - wer Dostojewksi pur erwartet ist verkehrt

von Gabriella Lorenz

Edmund Telgenkämper, Hannu Pekka Björkmann, Jukan Ulfsack (v.l.), Foto: Lennart Leberenz

Wo ein Finne ist, darf eine Sauna nicht fehlen. Und wenn „Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnokow“ des finnischen Autors und Regisseurs Kristian Smeds in der Spielhalle Station macht, muss man sie eben dort bauen. Zum Schwitzen bringt den Zuschauer nur der erste Teil, mit einer Ausnahme der zweite.Tänzelnd legt Andrè Jung Steine im Kreis aus, gießt Wodka hinein, und schon hat man ein Wasserbecken. Die Zirkuskünstler sitzen schwitzend auf einer rohen Bank, steigen dann einzeln ins kalte Wasser, und der letzte, der fast nackt die Macho-Show abzieht, muss danach mit Rasierschaum-Schlagsahne reanimiert werden. Mit einer furiosen Pantomime- und Slapstick-Nummer startet Smeds Kammerspiele-Inszenierung - und macht schnell klar, dass man hier keine Dostojewski-Umsetzung erwarten darf.

Den Saum des roten Samtvorhangs zieren Matrjoschka-Puppen mit Totenköpfen (Bühne und Kostüme: Ene-Liis Semper). Andrè Jung als Zirkuschef mit rotem Frack und Zylinder dirigiert fünf völlig irre Typen. Edmund Telgenkämper ist der melancholische Weißclown im poetischen Barrault-Posen, Katja Bürkle turnt als Western-Cowboy im Cat-Suit artistisch über Barrieren.

Eduard Telgenkämper, André Jung, Hannu Pekka Björkmann (v.l.), Foto: Lennart Leberenz

Normal ist hier nichts in diesem tiefschwarzen Panoptikum, das irgendwie um das Mordmotiv von Raskolnikow kreist, der sich als „Auserwählter“ berechtigt fühlt, andere „Minderwertige“ einfach umzubringen. Dostojewski hat mit Raskolnikows Visionen eines neuen Menschengeschlechts die Nazi-Visionen vorweggenommen. Smeds lässt deshalb den Esten Juhan Ulfsak auch schon mal in Hitler-Maske herumspazieren, mit der Geliebten Sonja (die Ungarin Annamária Láng als Tutu-Ballerina) am Arm. Das Mordmotiv taucht mit Äxten und Hackmessern immer wieder auf. Grausamer Höhepunkt: Der Zirkus- und Küchenchef Jung schnetzelt Gemüse (man riecht es deutlich) und verspricht als Hauptgericht Frischfleisch. Der halbnackte Clown  Hannu-Pekka Björkman wird von allen anderen mit Petersilie, Zitrone, Pfeffer gut gewürzt für seine Hinrichtung, das Hackebeil ist schon geschwungen, er liegt quasi auf der Guillotine. Bei Smeds ist das eine unendlich lange Folter mit vielen Toden: Nach dem Fallbeil stammelt er: „Entschuldigung, ich bin nur ein Mensch.“ Nach  Stromstößen rappelt er sich zappelnd wieder auf: als debiles Riesenbaby in Windeln, ein doof grinsendes Monster, das seine Bonbons an die Zuschauer verteilt. Und beim Zirkusdirektor um Liebe bettelt: „Ja, Papa liebt dich.“ Die Nummer ist viel zu lang, aber sie ist ein fulminantes Finale des ersten Teils.

Und den zweiten könnte man sich eigentlich sparen. Mit unendlichem technischem Aufwand wird da eine Unter-Bühnenwelt eröffnet mit gläsern abgeteilten Räumen, in denen irgendwo die Schauspieler an einem Probentisch sitzen und einzelne Passagen des Romans lesen, zweisprachig natürlich, Smeds hat ja vier Nationen in seinem Ensemble. Jetzt weiß man, wie sich Dostojewski auf Finnisch, Estnisch und Ungarisch anhört. Hilft uns das weiter? Die Räume kann man von oben als Zuschauer kaum einsehen, und das Video (Lennart Laberenz) zeigt eine langweilige Lesung. Danach wird der offene Bühnenboden wieder langwierig zugebaut, ehe Zirkusdirekt Jung durch die letzte offene Luke ins Grab steigt.

Aber ein Highlight dieser Aufführung lässt einen auch den überflüssigen zweiten Teil aushalten: Der Musiker Timo Kärämäinen. Er gibt an Gitarre, Keyboards, Schlagzeug und sonstigen Instrumenten mit seiner durchkomponierte Musik jeder Figur ihre eigene musikalische Farbe, jeder Szene ihren emotionalen Ausdruck, von hartem Rock  über sanfte Popsongs bis zu wunderbarem Jazz. Und passt sein Live-Spiel so sensibel dem Bühnen-Timing an, dass er ein vollwertiger Mitspieler ist.

"Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnokow" in den Kammerspielen: Spielhalle, 15., 18., 19., 23., 27., 30. Oktober 2012.

Veröffentlicht am: 09.10.2012

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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