Kurzgeschichte

Melodisch

von Gabriele Müller

„Geht’s auch ohne Liebe?“ – „Wozu ohne Liebe, wenn’s mit Liebe auch geht?“ Eine Geschichte über die Kunst am Wort, den alles entscheidenden Akkord und stilvolles Scheitern …

„Ich bin Jude.“

„Immer mit der Ruhe. Unsere Traumas heben wir für später auf.“ Sein messerscharfer Schneidezahn, ein Unfall, wie er zu einem späteren Zeitpunkt offenbaren sollte, bohrte sich in den grünen Bleistift.

Würde dieser Typ sein Gebiss in menschliches Fleisch stoßen, wäre das Vergnügen bedenklich, dachte Moritz Handschuh und dass Mädchen sich von so einem aber vermutlich den Kopf verdrehen lassen würden. „Gut, dann nehm ich den Juden zurück“, sagte er. „Aber am Samstag kann ich nicht proben, und auftreten kann ich da auch nicht. Und freitagabends erst recht nicht.“

„Freitag, Samstag, Sonntag sind bei uns heilig.“

„Gott sei Dank!“

„Hast du auch einen Namen?“, fragte der steile Zahn.

Unplugged – und die Röcke wippen (Illustration: Andreas Wiedemann)

 

„Willst du den echten oder den Künstlernamen wissen?“

„Der Künstlername reicht.“

„Johnny Trallala.“

„Johnny Trallala sings Jessas. Das wird einschlagen wie eine Bombe.“

„Und du?“

„Samir“, er nahm den Bleistift aus dem Mund und reichte Johnny Trallala alias Moritz Handschuh die Hand.

„Ist das dein Künstlername?“

„Nein“, sagte Samir, „du kannst dich übrigens ruhig setzen. Ich steh nicht so drauf, wenn ich zu anderen aufschauen muss.“

Johnny Trallala setzte sich neben das Nilpferd und legte dessen Kopf auf sein Knie. „Wer spielt noch in der Band?“, fragte er.

„Ich und der andere. Und du, wenn du singen kannst. Wir machen alles unplugged. Ich an der Gitarre. Der andere an der anderen Gitarre. Und du halt.“

„Wo üben wir?“

„Bei meinem Vater in der Reinigung, da stören wir keinen.“

„Willst du mich nicht fragen, warum ich bei euch singen will?“

„Hiermit frage ich dich: Warum willst du bei uns singen?“

„Wegen der Mädchen. Du nicht?“

„Ich steh nicht auf Mädchen“, sagte Samir und schob den Bleistift wieder in den Mund. „Wenn überhaupt, dann steh ich auf Frauen.“

„Auf welche Frauen?“

„Monica Vitti, Gena Rowlands, Julie Christie.“

„Kenn ich alle nicht“, sagte Johnny Trallala und tätschelte den Kopf des kleinen Nilpferds.

„Und auf wen stehst du so?“, fragte Samir und senkte seinen Blick auf das Nilpferd.

„Auf die Tochter von meinem Lehrer, auf die Enkeltochter von unserem Rabbiner, auf die Freundin von meiner Schwester, auf die Freundin von meinem Bruder und auf die Neue hinter der Rückgabe.“

„Da kommen wir uns nicht in die Quere“, sagte Samir.

„Dem Himmel sei Dank, hast du was mit FRAUEN. Und ich mit Mädchen.“

Samir sah ihn mitleidig an.

„Ich bin schwul.“

„Wollten wir uns die krassen Sachen nicht für später aufheben?“, fragte Johnny Trallala.

„Das ist nicht krass, krass wäre es, wenn ein schwuler Muslim sich in einen schwulen Juden verknallt. Dagegen würde auch Zeus seine Blitze schleudern.“

„Dann bist du ein schwuler Antisemit. Und Zeus ist es vermutlich auch.“

„Und du bist ein jüdischer Homophobiker.“

„Homophobiker?“

„Ja. Was ist jetzt, Homophobiker? Machst du mit?“

„Ist der andere auch schwul?“

„Der andere redet nicht so viel wie du. Der schrammelt an seiner Gitarre herum, und das war’s.“

„Ich sing also gegen euch beide an.“

„Ja. Und dazu brauchen wir einen geilen Song. Kannst du nicht was schreiben? Juden haben doch so viel Sprachwitz. Ich mach das Melodiöse. Und in vier Wochen spielen wir dann auf.“

„Gut, ich schreib ein Liebeslied. Für deine Frauen und für meine Mädchen.“

„Geht’s auch ohne Liebe?“, fragte Samir.

„Wozu ohne Liebe, wenn’s mit Liebe auch geht?“

„Ich mag das Wort Liebe nicht – diese Inflation von Liebe: Liebesgeschichten, Liebesperlen, die Liebe zum Detail, mit Liebe gebacken, aus Liebe gemacht, ein Liebesdienst. Liebe deinen Nächsten. Liebe dich selbst. Liebe in Fragebögen: ,Wie viel zählt für Sie die Liebe von null bis zehn Punkten?‘ Da sagen dann locker neunundneunzig Prozent: zehn. Und da könnte ich fast kotzen.

Und mein lieber Johnny Trallala, versteh mich jetzt nicht falsch. Ich hab nichts gegen die Liebe an sich. Im Gegenteil. Aber wichtiger als die LIEBE ist Respekt. Ohne Respekt keine Liebe.“

„Was schlägst du vor?“, fragte Johnny Trallala.

„Wir schaffen die Liebe ab, wir reden nicht mehr über sie.“

„Abschaffen? Da würde die komplette Musikbranche zusammenbrechen. Es gäbe keine Filme mehr. Die Prostitution würde vielleicht überleben ...“

„Dann einen Liebe-freien Sonntag.“

Ein kleines Mädchen stellte sich vor Samir und Johnny Trallala: „Das ist die Kinderecke. Die Bücher für die Großen sind da hinten. Und jetzt gib mir sofort das Nashorn!“

„Wenn du in deinem Alter noch so doof bist“, sagte Johnny Trallala, „und das für ein Nashorn hältst, dann geb ich dir das Nilpferd ganz bestimmt nicht.“

Das Mädchen fing an zu heulen, und Samir und Johnny Trallala erhoben sich sofort von den Kinderstühlen.

„Zeig mir noch schnell deine Flamme bei der Rückgabe, damit ich weiß, was du für einer bist“, sagte Samir.

„Da, Heulsuse“, sagte Johnny Trallala und gab dem Mädchen das Nilpferd.

*

Hinten bei den Flokatis und den Perserteppichen hatte sein Vater eine Teeecke eingerichtet.

„Gemütlich habt ihr’s hier“, sagte Johnny Trallala.

„Tut so, als ob ich nicht da wäre, lasst euch nicht stören“, sagte der Vater, nahm ein Hemd von dem dampfenden Bügelautomaten und pfiff weiter zu der Radiomusik.

„Papa, mach das Radio aus. Wir brauchen Stille. Bitte.“

„Natürlich, mein Sohn, alles, was du willst“, sagte der Vater und pfiff ohne Radio weiter. Während sich in den beiden riesigen orangefarbenen Reinigungsmaschinen einiges durcheinander wirbelte.

Es war heiß in der Reinigung. Johnny Trallalas T-Shirt klebte an seinem Körper. Er setzte sich auf den roten Lederpuff, den Samirs Vater ihm gebracht hatte.

„Sollen wir nicht auf den anderen warten?“

„Der andere kommt nicht, der Sonntagschrist“, sagte Samir und nahm seine Gitarre in die Hand. „Also, dann lass es mal hören, dein Liedchen.“

„Ohne Musik?“

„Ohne Musik, nur die Worte. Ich brauch Inspiration, damit ich den passenden Akkord finde.“

Johnny Trallala räusperte sich. Samirs Vater gesellte sich hinzu. Samir sah seinen Vater an. Der Vater verstand und entfernte sich.

„Schieß los“, sagte Samir.

Johnny Trallala schnippte mit den Fingern.

Es kracht zusammen

Es bricht in zwei

Jessas, ein Glück vorbei

Es geht vorbei

Wir fangen an

Jessas, mir hinterher

„Das war’s“, sagte Johnny Trallala.

„Aha.“

„Ja.“

„Das soll ein Liebeslied sein?“, fragte Samir. „Das ist zionistische Depression.“

„Dann schreib doch du die Texte.“

*

Vier Wochen später standen sie im Nichtschwimmerbereich, jeder ein Bier in der Hand.

Weiter vorn bei 3,50 spielte eine japanische Mädchenband. Die Sängerin schrie sich die Seele aus dem Leib. Die Schlagzeugerin und die Bassistin agierten emotionslos. Das Publikum tobte in dem wasserlosen Schwimmbecken.

„Wenn das heute mit der Musik hier nicht so klappt“, brüllte Samir Johnny Trallala ins Ohr. „Was machst du dann?“

„Studieren. Und du?“

„Studieren.“

Vor ihnen waren noch sieben Showeinlagen von sieben Freiwilligen.

Vier bestaunten sie in bedrücktem Schweigen.

„Willst du mit Karacho scheitern?“, fragte Samir zwischen zwei Auftritten.

„Eine stille Niederlage wäre mir lieber.“

Sie verließen das vor dem Abriss stehende Schwimmbad durch den Notausgang und liefen zur U-Bahn.

„Einmal sollten wir den Song schon noch spielen.“

„Aber nicht in der Öffentlichkeit“, sagte Johnny Trallala.

*

Als Samir eine Stunde später den entscheidenden Akkord auf seiner Gitarre erklingen ließ, erzitterten die Brautkleider und glitzerten die Pailletten auf den türkischen Partykrachern in der Reinigung seines Vaters.

Johnny Trallala hatte sich Nummer 731, einen schwarzen Anzug mit glänzenden Revers, ausgeliehen.

„And one and two ...“, gab Samir vor, während Johnny Trallala die Augen schloss, die Lippen öffnete und sich dem Augenblick hingab.

Madame Pompadour, du bist so stur

Schmollst nie und nur

Schaust mir gerade

in die Augen

Bist nicht kokett

nur schrecklich nett

Gelegentlich salopp im Bett

Dein Gang ist schal

Bist nicht banal

Liegst mir nah

Will neben dir verweilen

Will deine Luftmatratze sein, dein Luftballon

Das Strumpfband überm Knie

Will dein spezieller Perserteppich sein

Mit dir ins ungehörig Tiefe ziehn

Du bist die Perle im Portfolio

Auf dich hab ich gesetzt

Du bist das Sein

Ich bin der Schein

Ich hab dich eingebrannt

Lass dich nicht weitergehen

Hab dich mir einverleibt

Muss dich beleihn

Komm her, komm her zu mir

Zeig mir dein Bein, bin so allein

Karambolage, will mit dir Spaß

Ich bleib mir treu, geh mit dir mit

Tanzen Merengue

Ohne viel Enge

Du mit dir

Ich mit mir

wir und wir

Jessas, was für ein Glück.

Sämtliche Abendroben raschelten, nachdem der letzte Akkord längst verklungen war.

„Und was, wenn es ihnen doch gefallen hätte?“, fragte Johnny Trallala.

„Es hätte ihnen nicht gefallen. Nicht mal aus Höflichkeit hätte es ihnen gefallen“, sagte Samir. „Aus Höflichkeit applaudiert man Gottheiten und Nobelpreisträgern. Bei uns gibt es keinen Anlass für Höflichkeit.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Jetzt werden wir Freunde, was Besseres kriegen wir nicht hin.“

*

Zehn Jahre später war Johnny Trallala alias Moritz Handschuh Samirs Trauzeuge, und Samir und sein Mann wurden Patenonkel von Moritz’ Zwillingen. Gemeinsam feierten sie in einer Spelunke am Stadtrand. Geladen waren viele, gekommen waren weniger.

„Willst du wissen, was dein Vater auf dem Klo gesagt hat: ,Diesen Schwuchteln will der also seine Kinder anvertrauen.‘“ Samir grinste.

„Willst du wissen, was dein Vater auf dem Klo gesagt hat: ,Jüdische Patenkinder, so schnell kann der gar nicht schauen, und die haben ihm sein letztes Geld aus den Hosentaschen geschnorrt.‘“ Moritz Handschuh grinste.

Sie lachten. Kurz. Und die Väter waren für eine kleine Weile vom Tisch.

„Ich liebe dich“, sagte Samir, „natürlich auf eine sachliche, den Umständen angemessene Art.“

„Ich liebe dich auch“, sagte Johnny Trallala alias Moritz Handschuh und küsste Samir auf die Stirn.

 

Von Gabriele Müller ist im Ars Vivendi Verlag der Kriminalroman „Dress-Code“ erschienen.

Veröffentlicht am: 07.04.2012

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