Uraufführung im Cuvilliés - die Kritik

Kroetz' "Requiem für ein liebes Kind": Blick in Abgründe

von Jan Stöpel

Es taut: Das "Requiem für ein liebes Kind" von Kroetz. Foto: Thomas Dashuber

Wie kann man einem Menschen so viel Schlimmes antun? Franz Xaver Kroetz Stück "Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind" nimmt einen realen Fall von Kindesmissbrauch zum Vorbild. Am Münchner Staatsschauspiel wurde das Drama in der Regie von Anne Lenk nun uraufgeführt - als eindrückliches Spiel, das in bleierner Atmosphäre um das Böse im Menschen kreist.

Eine Kühltruhe hängt bedrohlich über den Köpfen der Akteure. Der Stecker ist gezogen, nun taut die Truhe ab, zumindest tropft sie stetig. Man ahnt, was sich in ihr befinden könnte: Ein kleiner Körper, aufzubewahren, bis man sich überlegt hat, wohin man ihn verschwinden lassen kann. Spurlos.

Ein Kind ist tot, auf so unfassbare Weise gestorben, dass man sich versucht fühlt, einfach den Deckel draufzulassen auf der Geschichte. Wer will schon tief in einen Abgrund blicken? Franz Xaver Kroetz mutet dem Zuschauer genau diesen Blick zu, und das über 90 Minuten. Sein Stück "Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind" ist ein schmerzhafter Text, eine Zumutung. Nicht nur in seinem Thema, dem sexuellen Missbrauch eines Kindes und seiner Ermordung. Sondern auch, indem es Mechanismen bloßlegt. Die Ausflüchte der Täter, ihre Techniken der Verdrängung, aber auch die Art, wie sie sich Liebesdienste des Knaben kaufen: Das ist allgemein beunruhigend, sagt viel über den Zustand der Gesellschaft aus. So monströs sind diese ekelhaften Täter auch nicht, als dass sie vollkommen aus der Umgebung der Menschen gefallen wären, wie Aliens in einer Eckkneipe.

Foto: Thomas Dashuber

Kroetz hat den Fall der Tosa-Klause in Saarbrücken zum Vorbild genommen, der zum Skandal des Pascal-Prozesses führte. Der ungeheure Verdacht: Im Hinterzimmer sollen Stammgäste einer Kneipe systematisch Kinder missbraucht haben und dafür der Wirtin Geld gegeben haben. Der fünfjährige Pascal verschwand. Noch immer fehlt, zehn Jahre danach, jede Spur des Buben. Aufgrund zahlreicher Ermittlungspannen stand die Anklage ohne ausreichende Beweise da. Lediglich die Wirtin wurde verurteilt - wegen eines Drogenvergehens.

Die Kneipenatmosphäre ist in Anne Lenks Inszenierung im Cuvilliés-Theater verschwunden. Metallwände schließen die Darsteller ein (Bühne: Judith Oswald). Es führt kein Weg hinaus, da können die fünf Männer und zwei Frauen reden, so viel sie wollen. Die Truhe tropft vor sich hin, irgendwann stehen die Akteure bis zu den Knöcheln im Wasser. Die Reflexe des Wassers brechen sich auf dem bleiernen Schinmmer der Rückwand. Wie oszillierende Kurven sieht das aus, Aufzeichnungen eines Stimmwirrwarrs.

Das Kind ist nur noch als Negativabdruck vorhanden. In den Worten, die ihm die Erwachsenen in den Mund legen: Mal als Solo, mal in Wechselrede mit einem der "Onkels", der in die Rolle des Kindes schlüft, mal im Chor. Oft treten die grässlichen Männer als Einheit auf, in ihren Solos aber weisen sie den anderen die Schuld zu. Ein schauerliches Requiem, in dem die Täter das Kind total vereinnahmen und Abseitigkeit erst so richtig offenlegen. In ihrer Rede ist das Kind der Kapitalist, der clever für jedes Bussi, jede widerliche Handlung Geld fordert. Es willigt ja ein, das liebe Kind, und schließlich zahlt man ja. Ein Geschäft halt.

Sie dagegen sind die liebenden, die wahren Romantiker. "Ich liebe Kinder, ich habe nicht gehört, dass das ein Verbrechen ist", sagt Gerhard Peilstein als Otto. "Er hatte so ein liebes, liebes Lächeln", sagt Manfred Zapatka als Kurt. Was Zapatka und Peilstein sowie Shenja Lacher, Franz Pätzold, Lukas Turtur, Katharina Schmidt als debile, selbst missbrauchte Mutter und Ulrike Willenbacher als Wirtin zeigen, zeugt von großerer schauspielerischer Klasse, von filigraner Ambivalenz, von der Fähigkeit, sich selber auf der Bühne Schmerzen zuzufügen. Allein, an die herausragende Qualität der Resi-Schauspieler möchte man am Ende gar nicht denken. Als verböte sich ein Begriff wie Klasse in Verbindung mit so einem Thema. Langer Beifall ohne Bravos.

Was Franz Xaver Kroetz und Regisseurin Anne Lenk über "Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind" denken, lesen sie hier.

Die nächsten Aufführungen im Cuvilliéstheater finden am 20. und 24. März um 20 Uhr statt.

Veröffentlicht am: 19.03.2012

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