Zu heikel fürs Staatstheater in Diyarbakir: Wie ein fast deutsch-türkisch-kurdisches Dokumentartheaterprojekt zur Premiere im Werkraum kommt

von Gabriella Lorenz

"München / Diyarbakir": Bitte nicht über Folter reden. So sagt man auch etwas. Foto: Andrea Huber

Diyarbakir ist die zweitgrößte Stadt Südostanatoliens. 80 Prozent der über 840.000 Einwohner sind Kurden, die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. In Diyarbakir gibt es ein türkisches Staatstheater, an das junge Schauspieler und Regisseure von der Staatstheater-Zentralverwaltung in Ankara für einige Jahre zwangsbeordert werden, ehe sie an andere Häuser wechseln dürfen. Aber der Intendant ist so aufgeschlossen, dass er sich eine Koproduktion mit einem deutschen Theater wünschte und dafür nach München reiste. So begann 2007 das deutsch-türkisch-kurdische Dokumentartheaterprojekt "München / Diyarbakir", das heute (1.12.11) im Werkraum Premiere hat.

Das Theater Diyarbakir ist daran jedoch nicht mehr beteiligt. Die Regisseurin Christine Umpfenbach erzählte uns die wechselvolle Geschichte dieser Inszenierung.

Christine Umpfenbach (40) ist Spezialistin für Dokumentartheater und hat seit 2006 mehrere Stadtprojekte für die Münchner Kammerspiele inszeniert. Zuletzt "Gleis 11" im Bunker unter dem Hauptbahnhof über die Ankunft der ersten Gastarbeiter aus Griechenland und Italien vor 50 Jahren, das gerade erfolgreich wieder aufgenommen wurde. Als Dramaturg Malte Jelden 2010 für diese neue Produktion bei ihr anfragte, hatte die deutsch-türkische Kooperation bereits Rückschläge erlebt: Ein Besuch der Münchner mit geplantem Workshop in Diyarbakir war vom Staatstheater Ankara abgesagt worden, weil er nicht mit der Zentrale abgesprochen worden war.

Umpfenbachs Idee war, mit einer in München lebenden Migrantenfamilie aus Diyarbakir und deren Verwandten in der Türkei sowie je zwei deutschen und türkischen Schauspielern etwas über beide Stadte zu erzählen - ganz unpolitisch. Doch die Kurdenfamilie Arslan, die man hier fand, ist aus politischen Gründen geflüchtet. Erst die Eltern mit dem jüngsten Kind, die beiden älteren Kinder kamen später nach. Die Eltern dürfen als "Staatsfeinde" nicht mehr in die Türkei einreisen - und konnten deshalb auch nicht selbst mitspielen. Denn die Aufführung sollte ja mit Hilfe des Goethe-Instituts auch in Ankara und Diyarbakir gezeigt werden.

Umpfenbach und Jelden änderten das Konzept: Nun sollten die 17-jährige Arslan-Tochter Gülbahar und ein kurdischer Junge über ihre Städte, ihre Sehnsüchte und Zukunftsträume erzählen. Das Kammerspiel-Team fuhr in das Heimatdorf der Arslans im PKK-Gebiet, um dort mit Verwandten zu sprechen und zu filmen. Die Verständigung war nicht einfach, da man immer einen Übersetzer brauchte. Im August forderte Ankara eine Textfassung an - danach herrschte Funkstille, es gab keinen Kontakt mehr, auch nicht mit dem Intendanten von Diyarbakir. Der Leiter des Goethe-Instituts wollte noch andere Kooperationspartner suchen. Doch als im September nach Bombenanschlägen mit Toten die politischen Spannungen in der Türkei stiegen, wurde auch dem Goethe-Institut das Projekt zu heikel. So beschlossen die Münchner: Wir machen es hier, ohne die türkische Seite.

Nun werden zwei Geschichten erzählt: die der Familie Arslan, auf der Bühne vertreten durch die beiden Töchter, und die des Projektverlaufs. Die türkischen Schauspieler, der Intendant, der Leiter des Goethe-Instituts und die Familienmitglieder wurden durch Puppen ersetzt, zwei deutsche Schauspieler übernehmen ohne feste Rollenzuweisung viele Figuren stellvertretend. Neu ist für die Regisseurin, dass sie selbst, der Dramaturg und der Kameramann live von drei Essen in der Türkei erzählen, bei denen Entscheidendes verhandelt wurde: Zum Beispiel, dass in Gesprächen mit der Familie das Wort "Folter" nicht erwähnt werden dürfe.

Dass die Aufführung vorläufig nur drei Mal auf dem Spielplan steht, ist noch der alten binationalen Disposition geschuldet - aber das lässt sich ja ändern.

Im Werkraum, Hildegardstr. 1 in München, am 1., 3. und 4. Dezember 2011, jeweils 20 Uhr, Karten Tel. 089 / 233 966 00

Veröffentlicht am: 01.12.2011

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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