Spektakulär und vergänglich: Ein in Stahl gebranntes Gedenken an 9/11

von Achim Manthey

Gen-Zeichen der Erinnerung in Stahl (Foto: Achim Manthey)

Zehn Jahre danach. Der gestrige Sonntag war ein Tag des kollektiven, aber auch des individuellen Erinnerns. Irgendwie, und sei es nur für einen kurzen Moment, ist einem jeden in den Kopf gekommen, wie er davon erfahren, wie er es wahrgenommen, was er gemacht, ob und wie er das verarbeitet hat, was am 11. September 2001 geschehen ist. Mit Berkan Karpat's Aktion "II.9.II. - DNA der Erinnerung. Eine Stahlklage" bot das Amerikahaus in München eine bemerkenswerte Gedächtnisveranstaltung.

Eine zwölf Meter lange Stahlplatte, gut zehn Zentimeter dick, ist in dem Rondell unterhalb des Obelisken auf dem Karolinenplatz gegenüber dem Amerikahaus aufgebaut. Davor, daneben, dahinter jede Menge Technik: Lautsprecher, Scheinwerfer, das THW ist mit vollem Equipment dabei, Kabelstränge verlaufen über den Rasen, links und rechts Computer-Arbeitsplätze auf Gartenmöbeln. Im Mittelpunkt vor der Wand ein Industrieroboter in knalligem Orange, dessen Arm sich in unterschiedlichen Abständen gen Himmel ausstreckt, sich wieder senkt, der Stahlplatte nähert, um ihr fauchend und funkensprühend Zeichen in die Oberfläche zu brennen. Über sechs Stunden geht das so, über zwölf Meter von links nach rechts immer dieselben Bewegungen.

Für jede Wunde ein Gen-Zeichen (Foto: Achim Manthey)

Berkan Karpat ist berühmt für Aktionen, die Aufsehen erregen. Der 46-jährige Allround-Künstler, Performance- und Theatermann, Lyriker, Essayist, der in München lebt und arbeitet, findet seit langem internationale Anerkennung. Das Amerikahaus konnte ihn für ihre Gedenkveranstaltung gewinnen. Die Arbeit dreht sich um das Erinnern und seine Kultur. Wie gedenken wir? Woran, an wen denken wir, wenn wir gedenken? Das, was als 9/11 in die Geschichte eingegangen ist, war ein Ereignis mit Sonderstatus des Erinnerns. Für die unmittelbar durch den Verlust geliebter Menschen oder durch die Traumatisierung als Helfer der ersten Stunden vor Ort Betroffenen sind das unauslöschliche Erinnerungen. Für Milliarden andere Menschen ist das Leid nicht individualisierbar, die Erinnerung, das Gedenken ist kollektiv.

Und genau da setzt Karpat mit seiner Aktion an. Sie führt zurück auf den Menschen, den Erinnernden, den Zeitzeugen, auf sein Persönlichstes, seine Privatheit, seine Individualität und damit, was sein Sein ausmacht - seine genetische Spur. Ab dem Sonntagvormittag waren Menschen aufgerufen, im Foyer des Amerikahauses eine Blutprobe abzugeben, aus der ihre DNA bestimmt wurde. Die Blutproben wurden miteinander vermischt und streng nach den Vorgaben der Ethikkommission und des Datenschutzes analysiert und durch Zufallsgenerator die dem menschlichen Genom zugehörigen Bestandteile herausgefiltert, verschlüsselt und nicht mehr zuordnenbar gemacht. Ein DNA-Strang entstand, durch die Beteiligung an dem Experiment ein Substrat menschlicher Erinnerung, eine genetische Zusammenfassung menschlichen Gedenkens. Und dann beginnt das Unfaßliche. Die durch den Einsatz bekannter humanbiologischer Mittel gewonnen Erkenntnisse werden in Dateninformationen umgewandelt, auf den Industrieroboter übertragen und in die Stahlplatte eingraviert. Das sind Prozesse, die sich dem Normalsterblichen nicht mehr erschließen und einfach so hingenommen werden müssen. Entstanden ist ein Muster geometrischer Zeichen, Anordnungen mit unterschiedlicher Tiefe, eine Skulptur aus nicht identifizierbaren Körperdaten, eine Architektur der Erinnerung, entstanden aus den Menschen, die aktiv mitgewirkt haben am Erinnern, indem sie ihr Blut gaben. Das hatte schon biblische Züge. Es sind keine Namen, die üblicherweise in Metall oder Stein eingraviert werden von den Toten, sondern anonyme Spuren derer, die sich aktiv erinnern.

Etwas Publikum gab's auch. Beschämend wenig. (Foto: Achim Manthey)

Begleitet wurde die Veranstaltung durch ein über die ganze Dauer der Aktion anhaltendes Sprachrezitativ. Ein von Zefer Senocak und Berkan Karpat entwickeltes, lyrisches Gebetspoem, unterbrochen von der 114. Sure des Koran, einer Schutzsure, die den Gott anruft, um allem Bösen zu widerstehen. Die sehr eindringlichen Texte, die im Foyer des Amerikahauses und auf dem Karolinenplatz zu hören waren, wurden genialistisch, erschütternd von Gabriele Maria Graf und Peter Pruchniewitz gesprochen.

Publikum gab es auch. Immer wieder verirrten sich Menschen auf den Karolinenplatz und schauten verwirrt auf das, was ich da tat. Viel zu wenige, beschämend wenige angesichts des Anlasses und der grandiosen Aktion. Immerhin: Einige Hartgesottene hielten aus, auch als das Event gegen 20.30 Uhr, kurz vor dem vorgesehenen Ende im Münchner Starkregen versank. Zu sehen ist das nicht mehr. Die Stahlwand sollte noch in der Nacht zerschnitten werden. Immerhin soll ein Teil davon dauerhaft Platz finden vor dem US-Konsulat.

Wer das nicht gesehen hat, hat etwas verpasst.

Veröffentlicht am: 12.09.2011

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