Willy Achtens Roman "Die wir liebten"

Bilderstrom ins Verbrechen

von Isabel Winklbauer

"Einfach schwimmen" - dieses Mantra spielt auch in "Die wir liebten" eine indirekte Rolle. Cover: Piper

Deutsche Kinderheime in der Nachkriegszeit stellt man sich rau vor. In manchen von ihnen geschahen jedoch richtige Verbrechen, wie die Pharmazeutin Sylvia Wagner vor wenigen Jahren herausfand: Medizinisches Personal in Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen testete zwischen 1950 und 1975 an den anvertrauten Kindern Psychopharmaka, Schlafmittel und Neuroleptika. Diesem Stoff hat der rheinische Autor Willy Achten nun seinen fünften Roman „Die wir liebten“ gewidmet. Bemerkenswert an seiner Erzählung ist vor allem der lange, emotionale Anlauf.

Die Brüder Edgar und Roman wachsen in den1970er Jahren in der britischen Zone Deutschlands auf. „Schließlich steht das Jugendamt vor der Tür, um sie in den Gnadenhof zu holen. Ein Heim, in dem das dunkle Deutschland überdauert hat“, lockt der Klappentext. Der Leser erwartet also zunächst eine klassische Knast-und-Flucht-Geschichte, gepaart mit dem Retro-Charme, der in den letzten Jahren Geschichten wie „Stranger Things“, „Es“ und „Dark“ so erfolgreich gemacht hat.

Doch „Die wir liebten“ läuft viel langsamer. Edgars und Romans Welt wird wie ein riesiger Teppich ausgebreitet, in den Achten alles einwebt, was eine Jugend ausmacht. Dazu gehört beispielsweise der Vater der Jungen, ein Bäcker, der eine Affäre mit der ortsansässigen Tierärztin beginnt und die Familie verlässt. Da ist die Mutter, die sich aus Verzweiflung in Alkohol und in die Arbeit in ihrem Lottoladen stürzt. Die geistig umnachtete aber liebenswürdige Tante Mia, sowie die bis zuletzt gütige und gelassene Großmutter, die greulich an Krebs stirbt. Die Kleinstadtbewohner gehören dazu, von denen manche sich bei den Besatzern anbiedern und für sie Schweine grillen, und wieder andere, die es geschafft haben, gründliches Schweigen über ihre Nazi-Vergangenheit auszubreiten und den Rest der Bevölkerung nun als Polizist oder Sozialarbeiterin piesacken. Von all dem umrahmt, geraten Edgar und Roman zu etwas schwierigen Jugendlichen, die viel Blödsinn machen – zwei Einbrüche aus Wut werden ihnen letztlich zum Verhängnis.

Schriftsteller Willy Achten. Foto: Heike Lachmann

Achten charakterisiert die Brüder wie die zwei Seiten einer Medaille: Edgar ist der ruhigere Erzähler, gesegnet mit einer guten Intuition und Feingefühl, der seinen großen Bruder bewundert und ihm folgt. Zu Recht, denn der andere, Roman, ist ein kritischer Geist, der keine Angst hat, Fragen zu stellen, Missstände zu kritisieren und anzuecken. Roman ist es, der dem großen Wortführer Owe die Dorfschönheit Ruth ausspannt, und Roman ist es auch, der in der Vergangenheit der Mitbürger stöbert und der Gerechtigkeit auf die Sprünge hilft, indem er Unterlagen an die Presse weiterspielt. Man könnte die beiden als deutsche Seele begreifen: sensibel und aufrichtig oder aber mutig und kritisch – aber nie in einer Person. Einen Beweis dafür, dass sie so geplant sind, gibt es aber nicht. Denn Achten zeichnet die Protagonisten ganz aus dem Bauch heraus, fließend, dezent und bildhaft anhand ihrer Handlungen, so dass sie ein solides Eigenleben entwickeln. Deshalb bleibt man auch gerne bei ihnen. Diese Figuren hätten tatsächlich so existieren können.

Generell kommt es dem Roman zugute, dass Achten auch Lyriker ist. „Nie trauten wir uns alleine in diese Düsternis. Manchmal kamen wir her, um unsere Nerven zu reizen, eine Angstlust. Auch an diesem Tag. Ein Nachmittag im November. Ein fadendünner Regen trieb übers Land. In der Luft lag der Geruch von Herbst. Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder, so die schwarzen Lettern auf gelbem Metallgrund.“ So leitet der Autor in eine leicht surreale Szene in der Ruine einer Tuchfabrik ein. Man atmet beim Lesen die feuchte Luft, riecht das alte Metall, hört Owe, hier noch ein Kind, herumkommandieren. So gelingen Zeitreisen.

Es sind schon zwei Drittel des Buchs vergangen, bis Edgar und Roman in den Gnadenhof eingewiesen werden. Bis hierhin verlief ihr Leben turbulent und problematisch, aber dort erreicht der Ärger eine neue Dimension. Die Dimension, in der es um Leben und Tod geht. Um Verlust, Angst und brutale Gewalt, um Widerstand oder Schweigen, um handeln oder sich ducken. Und auch darum, entweder nur sich selbst zu retten oder vielleicht alle anderen auch. Man neigt dazu, beide Dimensionen – die normal schwierige und die verbrecherische – über einen Kamm zu scheren, wenn man von Missbrauchsskandalen hört. „Vergewaltigt? Die war doch schon immer auffällig“ oder „Experimente? Der hatte doch Epilepsie, wird das Medikament schon gebraucht haben“, sind Kommentare, die im Umfeld von Opfern durchaus fallen. Doch hier, bei Achten, sind die Betroffenen inzwischen Seelenverwandte des Lesers. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen „Problemkind“ und „Opfer einer Gewalttat“, und letzteres lässt sich nicht mit ersterem entschuldigen. Das stellt „Die wir liebten“, dieser so lyrische und bildgewaltige, aber keineswegs romantische Retro-Roman klar.

Roman, der mutige Bruder, hebt letztlich die Axt zum Kampf. Es gibt einen Großangriff auf das Unrecht, der sich gewaschen hat... und wie es ihn eigentlich überall geben sollte, wo böse Absichten auf Kosten von Schwächeren umgesetzt werden. Dass der Leser sich außerdem in den 1970er Jahren so herrlich zuhause fühlt und die Knast-Bösen am Ende auf Realgröße schrumpfen  – das ist ein schöner Nebeneffekt.

 

Willy Achten: Die wir liebten. Piper, 22 Euro

Eine Leseempfehlung zum Thema Heimkinder findet sich hier.

Veröffentlicht am: 24.05.2020

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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