Andreas Stetka in der Galerie Artoxin

Anweisungen wie für glückliche Tage

von Michael Wüst

Andreas Stetka, Ausstellung stop (e) motion. Foto: Michael Wüst

Andreas Stetka kenne ich schon aus der Zeit, als er ein Atelier im alten WERK3 der Kultfabrik hatte. Gerne hätte ich etwas Neues von dem Mann mit der scheuen Präzision, dem ehemaligen Meisterschüler von Daniel Spoerri, gesehen. Als er mich zu seiner Ausstellung "stop (e) motion" am 6.März 2020 in die Galerie "artoxin" an der Kirchenstraße 23 einlud, hatte ich keine Zeit, besser gesagt ich konnte nicht. Kurz darauf war es schon aus mit dem Publikumsverkehr, dann war die Galerie ganz geschlossen. Ein Virus aus der Welt des Unsichtbaren hatte die Regie übernommen.

Nun kann die Ausstellung, nachdem demnächst auch Geister wieder Fußball spielen dürfen, wieder besucht werden - mit Masken. Der ausgestreckte Arm jedes Besuchers muss als Abstandshalter zu jedem anderen Besucher als dreifach verlängert vorgestellt werden und auch so wirken. Zu den äußerst filigranen und zarten Arbeiten, die ebenfalls aus der Welt des Unsichtbaren aufgetaucht scheinen, muss man aber sehr nahe hin:  Kultur, vorläufig als Maskenball von Weberknechten, die vorsichtig wippend sich den Quellen des Geistigen nähern. Plötzliche Zugluft ist zu vermeiden. Die Ausstellung ist jetzt bis zum 30. Mai 2020 zu den üblichen Öffnungszeiten verlängert. Im Hauptraum hängen acht Bleistiftzeichnungen "Pas de deux" (70 x 50cm) und inklusive dem Nebenraum 20 Aquarelle auf Papier und Millimeterpapier, "naked creature" (Tattoo), (29,7 x 21cm). "Pas de deux" sind jeweils zwei Bleistiftlinien, die aus der Hand im Millimeterfortschritt gezeichnet, in engem Abstand (Spielregel: "in etwa in Bleistiftminendicke") parallel geführt werden. Ein Paar mit kräftigerem Strich, ein Paar blasser.

Pas de deux (2019) Bleistift, Papier (70x50cm) Andreas Stetka VG Bildkunst, Bonn 2020

Es kommt zu Kreuzungen: Die ankommende Doppelllinie muss unterführt werden. Stetka kommt näher und mit dem für ihn typischen Hochziehen der Augenbrauen gibt er den Hinweis: Die beiden Linien definieren ja eigentlich eine Linie zwischen sich. Pas de deux: Nicht von zwei? In dem Knäuel, dem man gegenüber steht, sieht man die innere Linie auf dem Weiß des Papiers allerdings nicht vor lauter Knäuel. Das Knäuel der Doppellinien verbirgt diese Inversion. Konkret wird der Funktionsaufbau der Zeichnungen, wenn man die Spielregeln dazu liest, die den ausgelegten Blättern in der Galerie zu lesen sind. Von A bis K stehen dort elf Spielregeln wie Regieanweisungen. Einige müssen hier zitiert werden: a) Zwei Parallellen werden als eine dargestellte Gerade betrachtet. (Anm.: als sich schlängelnde Gerade) c) Die Bleistiftminen müssen während des gesamten Zeichenprozesses in spitzem Zustand gehalten werden. d) Der Winkel der Zeichenhand und des Bleistifts zum Papier muss über den gesamten Zeichenverlauf beibehalten werden. k) Der Zeichenprozess gilt spätestens dann als beendet, wenn die Geraden den Zeichengrund zu verlassen drohen. Die Funktionsvorschrift einer Maschine. Es ist wie in "Glückliche Tage" von Samuel Beckett. Die beiden Figuren, Winnie, halb eingegraben, fixiert und Willie, meist verborgen, werden gnadenlos präzise und unausgesetzt von Regieanweisungen gesteuert und gewissermaßen unkenntlich gemacht. Zwischen den ganzen maschinellen Anweisungen erscheint der minimale Text wie eine freie Stelle, die mit einer absoluten Beliebigkeit dessen, was man als glückliche Tage verstehen mag, gefüllt werden kann. Die verschiedenen Exponate der Serie "naked creature"  auf Millimeterpapier erlauben dem Rezipienten schon eher seinen Hang, Assoziationen zu frönen. Dennoch ein kleiner Spielregel-Hinweis von Stetka: Es habe ihn gereizt, die Aquarellfarbe mit einer Stahlfeder aufzutragen. Die Stahlfeder also versus das weiche Fließen des Aquarells. Da lässt man Gegensätze aufeinander los! Was entstand, immerhin, er selbst conzediert im Titel "naked craeture", ist das Hervortreten etwas scheinbar lebendig Kreatürlichen. Aber auch hier dominiert etwas gedanklich Ambivalentes wie bei bei Momentaufnahmen von Singularitäten in den Strudeln von zahllos beteiligten Elementen (vergleiche Vogelschwärme, Fischschwärme). Man ist verleitet, sich in diesen Tagen zu überlegen, wie sähe die Funktionsvorschrift eines globalen Virus auf einer global überbevölkerten Welt aus?

Möglichkeit (2019) Tusche auf Papier 29,7 x 21cm. Foto: Andreas Stetka, VG Bildkunst, Bonn 2020

Wenn die Erde sozusagen noch eine Scheibe wäre, würde da der massenhafte Abstand von bald acht Milliarden Menschen nicht einen Teil über den Rand purzeln lassen? Bei aller Zartheit der Arbeiten Stetkas wohnt ihnen etwas Trügerisches inne. In ihnen symbolisiert sich die gefährliche Erfahrung von einer unwillkürlichen Spielumkehr inmitten kybernetischer Anmutigkeit. Daneben nehmen sich seine Videos, die im Prinzip des Daumenkinos oft nur aus weniger als fünf Einzelbildern bestehen, wie nostalgische Rückblicke in eine Zeit aus, als die Erde noch vorwärts laufen durfte. Im Hinausgehen gibt mir Andreas Stetka noch einen Satz mit. Dabei zieht er die Augenbrauen hoch wie ein Kirmesanimateur: „ In dem Verstehen der Kunst stoßen wir an die gleichen Grenzen wie im Verstehen der Geisteskrankheit. Es sind die Bereiche der Imagination, es sind die Bereiche des eigenen Unverständlichen, es ist der Reichtum des Menschlichen.“ Ferenc Jádi

Die Galerie: www.artoxin.de

 

Veröffentlicht am: 06.05.2020

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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