"Coppélia" am Bayerischen Staatsballett

Die Kunst, das Schwere mit der Luftgitarre zu interpretieren

von Isabel Winklbauer

Erst eine lustige Partie wie diese ermöglicht "Love Bizarre". Foto: S. Gherciu

Ausgerechnet „Coppélia“, stöhnen Anhänger der tänzerischen Moderne, wenn nur der Name des Stücks fällt. In der Reihe vernachlässigter Klassiker, die seit 2016 stetig auf den Spielplan gelangen, greift das Bayerische Staatsballett unter der Leitung von Igor Zelensky nun auch den federleichten Schwank um die Puppe auf. Die Fassung von Roland Petit, auf die die Wahl fiel, ist einerseits Zuckerbäckerei – hat andererseits aber auch eine Haltung gegenüber dem Phänomen der Puppenliebe zu bieten.

 

Das Thema ist schließlich nicht nur nicht erledigt – die modernen „Coppélia“-Interpretationen der letzten 20 Jahre haben alle nicht überlebt. Es ist auch zeitgemäß. Denn ob man es schrill oder regenbogenmäßig nimmt, es gibt Menschen, die in einer Beziehung mit einer Puppe leben. Sowohl Männer mit Sexpuppen als auch Frauen mit Babypuppen. Unsere Zeit scheint eine Anfälligkeit dafür zu besitzen, Lebensmodelle mit überzogenen und unrealistischen Ansprüchen zu generieren. Die Selbstoptimierung so wichtig, dass nur noch das Ideal selbst als Partner in Frage kommt.

Franz (Denis Vieira) will zu Coppélia, Swanilda (Virna Toppi) lenkt ihn ab. Foto: S. Gherciu

Es ist also zwar grotesk, aber gar nicht so abwegig, dass Protagonist Franz (Premierenbesetzung: Denis Vieira), ein von Mädchen umschwärmter Bursche in einer Stadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, total verknallt ist in die geheimnisvolle Coppélia, die immer nur bewegungslos am Fenster sitzt. Dabei soll er doch Swanilda heiraten, die Schönste am Platz, die glücklicherweise auch Herz und Verstand besitzt und der Schwärmerei für die komische Unbewegliche ein Ende bereitet. Swanilda bricht mit ihren Freundinnen in das Haus des Erfinders Coppelius ein und enttarnt die vermeintliche Konkurrentin als Puppe. Franz muss seine unreife Schwärmerei erkennen, wogegen Coppélias Schöpfer Coppelius eine härtere Kur braucht: Erst als er ihre Trümmer in Händen hält, kann er in einen neuen Lebensabschnitt starten ...

Der gestandene Soldat (Distin Klein) kann auch Rosa tragen. Foto: S. Gherciu

Es ist eine einfache Handlung. Roland Petits Choreografie versucht erst gar nicht, dem Ganzen irgendeine Form von Ernsthaftigkeit zugrunde zu legen. Der 2011 verstorbene Franzose nimmt die Geschichte rundherum als Groteske, über die man einfach nur lachen sollte. Zu seiner Zeichnung gehört zunächst einmal eine nicht ganz ernsthafte Gesellschaft, in der eine Puppenliebe überhaupt passieren kann: Die Mädchen wackeln hier wie kleine Enten mit dem Popo, die Damen benehmen sich wie Aufziehfiguren, die Herren Soldaten tanzen so gutmütig affektiert ihren Csárdás, wischen sich so übertrieben würdig den Staub vom Oberschenkel und ergehen sich in so protzigen Ausfallschritten, dass sie den Stippeföttcher aus dem Kölner Karneval Konkurrenz machen könnten.

 

Dann ist da Franz, der Vollpfosten. Die Zuschauer müssen doch tatsächlich bis zur Vorstellung mit Gaststar Sergej Polunin sechs Tage nach der Premiere warten, bis jemand die Rolle voll ausgespielt. Franz ist ein selbstverliebt herumspringender Dödel, übertreibt wie einer, der Luftgitarre spielt, sülzt seine Angebetete aus der Ferne mit Wurfküssen und Liebesbekundungen zu. Und am Schluss, als er brav in Swanildas Arme segelt, hat er natürlich schon immer Coppélias wahre Natur durchschaut. Das unterstreicht er mit lässigen Double-Tours und Grand Jetés. Polunin, die Skandalnudel, hat komödiantisches Talent. Das ist eine kleine Überraschung. In all ihrem Frohsinn ernst ist dagegen nur Swanilda. Virna Toppi, die neue Erste Solistin des Staatsballetts, die sie verkörpert, ist über weite Strecken die Seele des Stücks. Das darstellerische Vermögen der Italienerin ist ebenso über jeden Zweifel erhaben wie ihre schwungvolle klassische Technik. Sie hinterlässt mit "Coppélia" (nach "Jewels") eine weitere hervorragende Visitenkarte – die neugierig macht, sie in ernsten Rollen zu sehen.

Coppelius (Luigi Bonino) mit Swanilda (Virna Toppi), die ihm eine lebendige Coppélia vorspielt. Foto: W. Hösl

Wie sehr das Stück abhängig ist von seiner Besetzung, war am stärksten an Javier Amo als Coppelius zu sehen. Wo in der Premierenvorstellung noch ein unbeweglicher, cabarethafter Luigi Bonino den verrückten Wissenschaftler geben durfte (er war Roland Petits langjähriger Assistent und studierte das Stück mit dem Staatsballett ein), so machte erst Amo daraus eine Geschichte. Wie liebevoll er mit seiner künstlichen Geliebten diniert, mit ihr tanzt und schließlich unglücklich über ihr zusammensinkt, weil sie selbst nun mal keinen Bewegungsimpetus verspürt, das ist rührend und bizarr. In Petits Version ist Coppelius nämlich ein begeisterter Tänzer. Er will stepptanzen und walzern, bewundert Flamenco und Csárdás. Dass ausgerechnet er eine Reglose liebt, ist der tragische Kern des Ganzen. Swanilda, die ihm eine Zeit lang vorspielt, Coppélia sei zum Leben erwacht, sieht das allerdings lapidarer. Sie macht ihm erstens klar, dass die zum Leben erwachte Geliebte widerspricht, sobald sie eine eigene Meinung hat. Und zweitens, dass Puppen nun mal nicht zum Leben erwachen: Ganz unprätentiös hält sie ihm zuletzt die nackte Coppélia hin, deren Kleider sie gemopst hat. Gegen zu hohe Ideale hilft nur Realismus, und, wenn der versagt, Frohsinn.

 

Swanilda (Virna Toppi) und ihre Freundinnen blicken hilfesuchend ins Publikum, während sie Coppelius' Haus durchsuchen. Foto: W. Hösl

Oft durchbrechen die Darsteller die vierte Wand und gestikulieren zum Publikum. Es wird getwistet und Cancan getanzt. Petit fügt auch mal abgewinkelte Harlekinfüße ein, oder krumpelig nach oben geworfene Beine. Das, sowie die Ohrwurm-Musik von Léo Delibes macht aus dem Stück so etwas Ähnliches wie eine Operette. Das befriedigt natürlich weder Anhänger der tänzerischen Moderne, die langsam ihren Hut fressen dürften angesichts des klassiklastigen Ballettspielplans, noch Agalmatophile (so nennt man Menschen, die Statuen oder Puppen lieben). Andererseits ist es eine hohe Kunst, schwere und merkwürdige Dinge leicht zu nehmen. Wer Interesse hat, kann zumindest sie jetzt am Bayerischen Staatsballett lernen.

Veröffentlicht am: 29.10.2019

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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