"Le socle des vertiges" bei Spielart in der Muffathalle

Endloses Leiden - und ein kleines bisschen Poesie

von Michael Wüst

Texte im Drahtverhau. Foto: Dieudonné Niangouna

Ein Stück Theater, kein Stück im herkömmlichen Sinn. Der kongolesische Autor und Schauspieler Dieudonné Niangouna hat sein Romanfragment "Le socle des vertiges" (Das Fundament des Taumels) als Vorlage genommen, um es mit sechs Spielern in der Originalsprache Französisch mit Übertiteln, Film- und Toneinspielungen, Live-Musik und jeder Menge schnell verschobener Requisiten des nackten Alltags, Sandsäcken, Stacheldraht, Kisten, Tonklumpen, Garderobenständern und Farbkübeln umzusetzen.

Ein rohes Stück Theater sperrfeuerartiger Sprachsalven, ordinär, atemlos, dunkel, blutig und stark. Es ist die Geschichte zweier Brüder aus "Brazza", Brazzaville, der Hauptstadt in der Zeit der Volksrepublik Kongo (1969-1991). Roger wurde auf der Straße ausgesetzt und Fido wuchs im bürgerlichen Milieu auf. Die Geschichte nimmt ihren Lauf, die ungleichen Brüder treffen aufeinander im Viertel der "Canards", der Angeber. Beide lieben Diane, die ein Kind von einem der Brüder bekommt, das sie nach der Geburt erwürgt und in den Latrinen entsorgt. Dann stirbt Diane. Der Vater Joachim Yoka Binkosso wird mit sechs Kugeln in einer Bar erschossen, zahlt, steht auf, geht nach Hause und "nimmt den Zug".

Fido, der Bürgerliche, verläßt den Kongo und Roger, der Straßenköter, forscht nach. Er bringt den toten Vater ins Spital Saboukoulu zu seinem Onkel Jules, damit dieser ihn zum Leben erwecke. Nachdem das fehlschlägt, foltert Roger den Arzt. Dieser mörderische Familienplot wird verwoben mit der Leidensgeschichte der kongolesischen Bantu-Bevölkerung, die schon einmal Anfang des 20. Jahrhundert in dem Begriff "Kongo-Gräuel", der gnadenlosen Ausbeutung durch belgische Unternehmen in Verbindung mit Sklaverei und Zwangsarbeit und zahllosen Toten, um die Welt ging. Eine Episode nur im jahrhundertelangen Drama dieses reichsten Landes Afrikas. 1884, auf der Kongo-Konferenz mit Otto von Bismarck, wurde der belgischen Krone in Person von Leopold II. der Kongo als Privatbesitz zugesprochen, in Verbindung mit hohlen humanitären Auflagen wie  "die Erhaltung der eingeborenen Bevölkerung und die Verbesserung ihrer sittlichen und materiellen Lebenslage zu überwachen". Zwei Episoden nur aus einer endlosen Leidensgeschichte des Kongo, der wie die Neue Welt schon zuvor von den Fürsten Europas zur Fundsache erklärt wurde, ausgebeutet wurde und dafür die Mission bekam.

Die sechs Sprecher-Spieler der Compagnie Les Bruits de la Rue jagen sich gegenseitig mit viel Körpereinsatz die Wahnattacken des Autors Dieudonné Niangouna ab, reißen Textkaskaden an sich, die Kolonialismus, Ausbeutung, abgehackte Hände, Diktaturen, Sozialismus, die Chinesen, das Leben in Abgründen, den Craneurs, den Puffs und Bars von Mouléké und das Leben bei den Angebern, den Canards miteinander verschmelzen. Dazu laufen Filme, wie der von der Schlachtung eines Rindes, gut geeignet pro Vorstellung ein gutes Dutzend neuer Vegetarier zu produzieren.

Gegen Ende wachsen dem unverdaulichen Brocken Text, der alles in die Subjektivität des Autors wie in einen Malstrom stürzt, absurde, zarte Momente der Poesie zu. "Nur Vater oder Mutter. Kinder, die sind höchstens das Wechselgeld für zerschlagene Tassen." Und skurrile Beschimpfungen drücken einem das Lachen nach oben: Du Trottelblutwurst, du Kanalrattentartar, du alte Unterhose einer Hure vom Arzt mit Suppe in den Eiern! Ein Fundament für den Taumel. Eine Bauplan der 1.Welt.

Veröffentlicht am: 26.10.2015

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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