Tania Maria beim Jazz Summer im Night Club des Bayerischen Hofes

Trunken im Schmelztiegel

von Michael Wüst

Sicher durch den Dschungel der Kadenzen. Foto: Michael Wüst

Wenn es rhythmisch komplex wird, ist man gut beraten, nicht weiter als bis zwei zu zählen. Jede weitere Festlegung würde der Samba zum Beispiel sofort durchbrechen und den Mitzählenden mit Sternlein im Kopf auf der Strecke zurücklassen. So auch nach diesem Konzert: Weißt du wie viel Sternlein stehen? Aber das ist nur die wahre Bewunderung für den Reichtum und die Vielstimmigkeit des Tania Maria Viva Brazil Quartet, das zu Gast war beim Jazz Sommer im Night Club des Bayerischen Hofes.

Die Musik dieser brasilianischen Meisterin am Klavier mit großer, perkussiv scattender und leichtfüßig phrasierender Stimme hat gewissermaßen gar keinen ersten Ton und festen Ort, ihre Omnipräsenz macht einen trunken und lange, lange klingt es nach. Es ist mediale Fähigkeit, das Wissen darum, dass die Musik schon immer in der Welt ist, Sache allein des musikalischen Magiers, auch uns teilhaben zu lassen. Wenn auch möglicherweise anfangs mit dem ratlosen Blick Klaus Kinskis in „Aguirre, der Zorn Gottes“ ins Herz dieser leuchtenden Amazonas-Finsternis.

Sie beginnt mit „Bom Bom Bom Chi Chi Chi“. Mit sparsamem Riff und leichtem Bossa-Feeling baut sich das Stück auf. Aus hals- und zungenbrecherischen Unisono-Scatlines mit dem Klavier bricht plötzlich eine zunächst eingängige Sambalinie hervor, die aber in einen Strudel von wilden Rückungen, Kadenzen fließt. In einen Schmelztiegel, in dem chromatische Bewegungen à la Monk sich mit impressionistischen, Ellington'schen Flächen mischen, um wieder ebenso unvermittelt in geordnete Bossa-Bahnen zurückzukehren. War was?

Die unbändige Spielfreude kennt kein Thema-Thema-Open at Solo, mit traumhaftem Understatement werden die Strukturen scheinbar beliebig ineinander gezogen. Ihr langjähriger Begleiter am Bass Marc Bertaux geht das alles mit größter Gelassenheit mit. Unbeeindruckt verwandelt er, was sich im modalen Dschungel eröffnet. Neben berühmten Stücken wie „Agua de Beber“ und „Besame Mucho“ und auch Neuem aus ihrem aktuellen Album „Canto“ fehlte auch „Funky Tambourine“ nicht. Während Drummer Hubert Colau sich gefasst im Auge des rhythmischen Sturms wähnte, erhöhte „Handdrummer“, Perkussionist Mestre Carneiro im ständigen Augenkontakt mit Tania Maria am Flügel und den Keyboards permanent die Drehzahl des musikalischen Zyklons. Kaum zu glauben, was aus dem kleinen Tambourine herauszuholen oder auch mit dem zur Grundmelodie dissonant gesetzten Agogo zu bewirken ist.

Chromatisch absteigend, ein Wirbel der modernen Improvisation. Ins Herz der Finsternis? Nein. Unvermittelt (wie nicht zu erwarten) ein Ho-ho-ho und die ehemals eingängige Sambalinie erstrahlt auf ekstatisch verjüngtem Niveau. War was??? - Enden wir der Verehrung halber wortlos: Aber hallo!

Veröffentlicht am: 29.07.2015

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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