50 Jahre diplomatische Beziehungen - Karl Stankiewitz über Juden nach 1945 in Südbayern

Der Hass hatte noch lange nicht kapituliert

von Karl Stankiewitz

Aus dem deutschen Viertel in Haifa. Foto: Thomas Stankiewicz

Zum Jahresende 1944 – in den Kinos lief gerade das Veit-Harlan-Melodram „Opfergang“ an – konnten die Münchner Massenmordhelfer nach Berlin melden: Die Hauptstadt der Bewegung ist "judenfrei". Von den rund 12.000 jüdischen Bürgern überlebten hier, in ihrer Heimatstadt, nur 84. Eine erschreckende Zahl, dokumentiert von Hanns Lamm, dem ersten Nachkriegs-Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde. Diese war schon am 19. Juli 1945 in einem Altersheim an der Kaulbachstraße neu gegründet worden. Zu Beginn der Versammlung gedachten die etwa hundert Anwesenden ihrer ermordeten Glaubensbrüder.

Unmittelbar nach Kriegsende wurde die gewesene „Hauptstadt der Bewegung“ und ihre Umgebung zum Hauptsammelort für „Displaced Persons“, wie die befreiten, aus den Lagern strömenden Gefangenen in der Sprache der amerikanischen Befreier hießen. Die meisten waren „Fremdarbeiter“ aus Osteuropa – und Juden, fast alle aus den Konzentrationslagern. Die Gesamtzahl der jüdischen „DPs“ in Bayern wuchs zeitweise auf 200.000 an. In Föhrenwald bei Wolfratshausen entstand das größte und am längsten betriebene Lager für Überlebende des Holocaust. Nahebei hatte im April 1945 einer der Todesmärsche von Dachauer Häftlingen geendet.

In jener Zeit reiste der spätere Gründersvater des Staates Israel, David Ben Gurion, nach München, um die Frage der jüdischen Flüchtlinge mit dem zionistischen Anliegen eines eigenen Staates auf dem Territorium Palästinas zu verbinden. Nach Ansicht von Dan Diner, Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, „stand die Wiege des im Mittleren Osten geborenen jüdischen Staates gewissermaßen in Bayern“.

Bis 1957 lebten im Lager Föhrenwald - wo kurz zuvor Arbeiter einer gut getarnten Sprengstoff- und Munitionsfabrik gewohnt hatten und später der Wolfratshauser Ortsteil Waldram entstand - zeitweise über 6000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus nicht weniger als 16 Ländern. Die Umgangssprache war Jiddisch. Es gab ein Theater, ein Orchester, einen Fußballclub und eine Schule. Ab Juli 1945 bereits wurde in München sogar eine eigene Zeitung gedruckt, der „DP Express“, mit Beiträgen in fünf Sprachen.

Eines der Schulmädchen in Föhrenwald war Charlotte Knobloch, später (und bis heute) Vorsitzende der Kultusgemeinde und schließlich Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Auch die aus Deggendorf stammende Rachel Salamander war bis zum siebten Lebensjahr in einem solchen Lager. Sie berichtet: „Keiner wollte in Deutschland bleiben, aber ein Drittel blieb dann doch. Sie waren vom Tode gezeichnet und vom Überleben geprägt. Was sie hielt, waren die Kinder, die Geburtenrate war sehr hoch. Diese Geborgenheit war das tragfähige Element für mein Weiterleben.“ Rachel Salamander gründete 1982 in München die angesehene „Literaturhandlung“, sie leitet auch die Buchhandlung im neuen (und gerade eröffneten) NS-Dokumentationszentrum.

Die 1931 geborene Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, Insassin mehrerer DP-Lager in Bayern, erinnert sich an 1945: „In der deutschen Bevölkerung war der Judenhass unterschwellig geworden, brodelte aber weiter. Die Überlebenden erinnerten sie durch ihr bloßes Dasein an das Vergangene und Begangene. Wir waren verhasst, Parasiten einer 'verjudeten Militärregierung'.“ In München brodelte das böse Wort „Parasiten“ besonders, weil in der Möhlstraße im vornehmen Bogenhausen der größte und wohl auch umsatzstärkste Schwarzmarkt Europas blühte, der fast ausschließlich von Juden betrieben wurde. Es gab fast nichts, was es dort nicht gab. Alles natürlich illegal, aus dunklen Quellen. Mehrere Razzien entspannten die Lage immer nur vorübergehend.

Im Dezember 1947 konnte Polizeipräsident Franz Xaver Pitzer (SPD) dem Stadtrat die „erfreuliche Botschaft“ melden, dass „ein sehr großer Teil unserer jüdischen Mitbürger abwandern will“. Da gab es Bravorufe. Insbesondere aus dem Arbeiterviertel Kaltherberge, wo sich ein großes Lager für „Displaced Persons“ befand, war eine größere Abwanderung geplant. Nachdruck verlieh der Polizeichef, der auch mal von „de Sauhund“ sprach, den amtlichen Zielvorstellungen, indem er anordnen ließ, mehrmals rückfällige Schwarzhändler werde man in Arbeitslager stecken. Den Tag, als dies auf großen Plakaten verkündet wurde, nannte Pitzer den „glücklichsten Tag meines Lebens“.

Auch mit ihren amerikanischen Befreiern machten die überlebenden Juden zeitweise böse Erfahrungen. In Bayern, wo die meisten von ihnen versammelt waren, ließ der Militärgouverneur George S. Patton, ein Kriegsheld mit deutlich antisemitischer Haltung und Hochachtung vor der SS, die DP-Lager durch Stacheldraht umzäunen und von bewaffneten Soldaten bewachen. Die Insassen waren für ihn, so wie für die Nazis, nur „Untermenschen“, die das Land wie Heuschrecken überziehen und Deutsche ausrotten könnten - soweit das Historische Lexikon Bayerns. Der General wurde strafversetzt. Die Lager wurden fortan durch jüdisch-amerikanische Hilfsorganisationen betreut, sie bekamen Selbstverwaltung, Synagogen und eine eigene Polizei.

Mit der Zeit vernarbten die schlimmsten Wunden, schwanden böse Erinnerungen, Hassgefühle, Vorurteile, wuchsen gegenseitiges Verstehen, Zutrauen und Versöhnungsbereitschaft. In München entstand die erste Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in der Bundesrepublik. Der nichtjüdische Galerist Richard Grimm richtete in der Maximilianstraße das erste Jüdische Museum ein. Die Oberbürgermeister Karl Scharnagl und Hans Jochen Vogel knüpften persönliche Kontakte. Und die Stadt organisierte als erste in Deutschland ein Besuchsprogramm mit Israel, dessen Schwerpunkt der Austausch von Schülern und Lehrern war.

Doch schon bald kam es zu neofaschistischen Umtrieben und Anfang 1960 zur offenbar organisierten antisemitischen Hetze. Erwähnt seien noch zwei Ereignisse, über die der Autor seinerzeit (als Journalist) zu berichten hatte. Im November 1953 wurden in einem Betsaal in der Möhlstraße 163 Männer, Frauen und Kinder festgenommen, weil sie illegal aus Israel über Frankreich eingewandert waren. Schlechte Lebensverhältnisse, ungewohntes Klima – wer wollte schon die Gründe ermessen. „Ich sehe keine Spur von Tragik, wir werden sie abschieben müssen,“ sagte mir ein Sachbearbeiter im Staatssekretariat für das Flüchtlingswesen, das von Vertriebenen aus dem Sudetenland mit Strenge geführt wurde. 94 Mark müsse der Staat pro Kopf und Monat für das Lager Föhrenwald ausgeben, rechnete der Beamte. Vor der Ausweisung verurteilte das Münchner Schnellgericht schnell noch 66 der halb verhungerten Männer zu je zwei Wochen Gefängnis.

Schlimmeres noch geschah am 13. Februar 1970: Nach dem Sabbat-Gottesdienst im jüdischen Altersheim in der Reichenbachstraße brach ein Brand aus. Panik ergriff die 15 Anwesenden, fast alle Überlebende der Konzentrationslager, fast alle gehbehindert. „Wir werden vergast und verbrannt“, rief ein alter Mann den Feuerwehrmännern entgegen. Zwei alte Menschen kamen noch in ihren Zimmern um, vier erreichten den rettenden Ausgang nicht mehr und erstickten im dichten Qualm, der 71jährige Künstler Max Blum sprang vom vierten Stock in den Tod. Die Überlebenden wurden mit schweren Rauchvergiftungen ins Krankenhaus gebracht, wo sie Bundesinnenminister Genscher besuchte. Eine Hausbesucherin wollte gesehen haben, wie ein arabisch aussehender Mann kurz zuvor die Treppe hochgestiegen sei. Aufgeklärt wurde der Fall nie.

Die leidvolle Geschichte der Münchner Juden vom Mittelalter bis heute beschreibt Karl Stankiewitz in einem Kapitel seines Buches „Minderheiten in München“, das der Pustet-Verlag am 17. September 2015 im Valentin-Musäum vorstellen wird.

Veröffentlicht am: 13.05.2015

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