Tagung zu Robert Musil und dem 1. Weltkrieg im Münchner Literaturhaus

Der amorphe Mensch

von kulturvollzug

Robert Musil mit seinen Auszeichnungen, um 1918. Foto: Robert Musil Literatur Museum Klagenfurt

„Ende Juli. Eine Fliege stirbt: Weltkrieg.“ Im Werk des österreichischen Schriftstellers Robert Musil gibt es nur wenige direkte Thematisierungen des 1. Weltkrieges. Die Musil-Forscher, die im Münchner Literaturhaus vom 8. bis 9. Mai 2014 zusammengekommen waren, um die Bedeutung der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts für Musil auszuloten, verfolgten daher zwei spannungsgeladene gegensätzliche Zugänge: Biographische Einsichten zum K.u.K.-Offizier Robert Musil an der Weltkriegsfront in Südtirol und literaturwissenschaftliche Untersuchungen der Spuren der Kriegserlebnisse in seinem Werk.

Die Spannung entlud sich beim Vortrag des langjährigen Musil-Biographen Karl Corino, dem er den kriegerischen Untertitel "Eine Erledigung" gegeben hatte. Corino wollte darin eine unmittelbare Vorbildbedeutung von Kriegserlebnissen Musils für das Erzählfragment "Grigia" nachweisen. Tatsächlich war der Offizier Musil zu Kriegsbeginn im Südtiroler Fersental an der Dolomitenfront der Habsburger gegen Italien stationiert gewesen. Für teils heftigen Protest der Literaturwissenschaftler sorgte allerdings Corinos biographische Methode: Über parallele Figuren- und Handlungsstrukturen des Fragments "Grigia" versuchte er die mythisch-ursprüngliche Bäuerinnenfigur aus "Grigia" mit der Fersentalerin Maddalena Lenzi zu identifizieren und sie als eine unbekannte neue Geliebte des historischen Autors Musil ausfindig zu machen. Eine solche Gleichsetzung von Fakten und Fiktion ist seit Roland Barthes' Diktum vom Tod des Autors in der Literaturwissenschaft nicht mehr üblich. Der kleine Eklat markierte so den Graben zwischen Leben und Werk Musils, den durch die Kriegsthematik aufgeworfen wird. Ihn zu überbrücken bemühten sich alle Musil-Beiträge der Tagung.

Der Krieg als Umkehrung

Spannungsgeladene Diskussionen im Literaturhaus. Foto: Thomas Jordan

Grundlegendes von literaturwissenschaftlicher Seite lieferte dabei der Basler Germanist Alexander Honold. Er machte für die zeitliche Ordnung der Darstellung in Musils großem Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften" das Prinzip des 'Hysteron-Proteron' verfügbar. Demnach folgt das Romangeschehen einer Struktur, bei der das Spätere zuerst erfolgt. Die zeitliche Ordnung wird umgekehrt, was laut Honold eine Folge von Musils Kriegserfahrungen darstellt. Aktuelle Forschungsströmungen der Sozialwissenschaften nahm der frisch graduierte Musil-Interpret Harald Gschwandtner bei seinem Vortrag mit dem Titel "Glück in Zeiten des Krieges" auf. Er brachte Musils aus Kriegserlebnissen gespeiste Utopie einer "ekstatischen Sozietät" mit der derzeit boomenden Glücksforschung zusammen.

Hier, wie bei einer ganzen Reihe von Vorträgen, wurde Musils höchst ambivalente Haltung zum Krieg deutlich: Wie so viele seiner Schriftstellerkollegen hatte auch er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Den Kriegsbeginn hatte der damals 34-Jährige einen "Sturm der Güte" genannt, in dem anfangs nicht die Gewalt, sondern der kollektive Opferwille der Beteiligten überwogen hätte. Später bezeichnete er den Krieg dann als ein "Fieber", das über ihn gekommen war. Die Interpreten konnten nachweisen, dass der Krieg bei Musil eng mit dem zentralen theoretischen Konzept des "anderen Zustands", der mystischen Erlebensweise, verknüpft ist: Von dem Kriegserlebnis erhoffte sich der Autor nämlich genau dies: Eine Umkehrung und Verinnerlichung der menschlichen Perspektive.

Ein zentrales Ergebnis der Tagung ist die Erkenntnis, dass für Musils Umgang mit dem 1. Weltkrieg die Übertragung von Kriegsgeschehen auf andere Lebensbereiche kennzeichnend ist. Etwa in Situationen der Identitätsfindung oder der Lebenskrise zeigt sich in Musils Literatur ein 'Krieg im Frieden' - Alltagserlebnisse in der Struktur und Thematik des Krieges. Was Musil aus den vier Kriegsjahren gewonnen hatte, war denn auch eine allgemein anthropologische Einsicht: Klaus Amann, Präsident der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft, formulierte sie mit Musils Gestaltlosigkeitstheorem, wonach der Mensch beliebig formbar, sowohl zur "Kritik der reinen Vernunft" als auch zur "Menschenfresserei" fähig sei. Trotz gelegentlicher Kriegsrhetorik neigte sich auch die Tagung im Literaturhaus, je länger sie andauerte, immer mehr dem ersten dieser beiden Pole zu.

Thomas Jordan

Veröffentlicht am: 16.05.2014

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