München bekommt ersten Stolperstein für ein Opfer der Nazi-Euthanasie

Rotes Kreuz hieß - Tod

von Karl Stankiewitz

Günter Demnig, Bildhauer und Schöpfer der Stolpersteine. Foto: Christoph Wilker

Am Donnerstag, den 22. Mai 2014, wird ein Gedenkstein für Max Sax, der am 30. Juli 1943 im Alter von 71 Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar gestorben ist, in München feierlich gelegt. Max Sax starb, weil er im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms unter der Aufsicht der Pfleger und Ärzte verhungerte. Der Gedenkstein für Max Sax ist der 27. Stolperstein, der in München verlegt wird und der an die Krankenmorde erinnert, die aus historischer Sicht heute einhellig als „Probelauf für den Holocaust“ gesehen werden. Bisher mussten alle 27 Stolpersteine in München auf Privatgrund verlegt werden, da der Stadtrat 2004 eine Verlegung auf öffentlichem Gelände verboten hat. Das Thema wird heuer wieder Gegenstand einer Stadtratsvorlage sein.

Max Sax war 70 Jahre alt und „unheilbar krank“, als ihn Ärzte der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, der Vorgängerklinik des heutigen Krankenhauses Haar, am 30. Juli 1943 vorsätzlich verhungern ließen. 

Schon am 1. November 1939 hatte sich der Direktor der Eglfinger Anstalt, der Psychiater und Neurologe Hermann Pfannmüller, in einem Brief an die vorgesetzte Regierung von Oberbayern erboten, „dass wir Ärzte hinsichtlich ärztlicher Betreuung lebensunwerten Lebens auch die letzte Konsequenz im Sinne der Ausmerze ziehen“. Der auch als fanatischer NS-Gauredner auftretende Medizin- und Geschäftsmann fühlte sich einfach „verpflichtet, wirkliche Sparmaßnahmen aufzuzeigen“.

Am 22. Mai 2014 wird in der Von-der-Tann-Straße in München, wo Max Sax gewohnt hatte, ein Stolperstein verlegt. In München ist dies der erste von bisher 46.000 in ganz Europa verlegten Stolpersteinen, der an die Opfer der von den Nationalsozialisten angeordneten Art von „Euthanasie“ erinnert. Bisher hat eine private Initiative in München derartige Bodenplatten vor den einstigen Wohnstätten der Opfer des Nationalsozialismus - darunter Zeugen Jehovas, Homosexuelle und politisch Verfolgte - ins Straßenpflaster eingefügt. Dies geschah bislang allerdings nur auf privatem Grund. Über die oft beklagte Zurückhaltung der Stadtverwaltung soll im September im Stadtrat diskutiert werden.

Die Geschichte der Nazi-Euthanasie ist zwar im Großen und Ganzen dokumentiert, es fehlen aber noch viele Details. An der Aufklärung und Aufarbeitung dieser massenhaft und systematisch betriebenen Morde beteiligt ist vor allem der frühere Kaufbeurer Anstaltsleiter Professor Michael von Cranach, Leiter der Arbeitsgruppe „Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus“, der jetzt zusammen mit Gunter Demnig, Bildhauer und Schöpfer der Stolpersteine, in der Von-der-Tann-Straße sprechen wird.  Forschungsarbeit betreibt auch das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität München.

Am 18. Januar 1940 verließ auf einem eigens und eilends verlegten Versorgungsgleis ein Zug der Reichsbahn den Vorort Haar. Er brachte 25 psychisch kranke oder geistig behinderte Männer nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, wo die Nazis eine geheime und zentrale Tötungsanstalt eingerichtet hatten. Zwei Tage später folgte ein Waggon mit 20 Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Es handelte sich um die überhaupt ersten Opfer einer „Aktion T4“ - eine Tarnbezeichnung für den geplanten Massenmord.

Bei diesem systematischen Staatsverbrechen sind im Deutschen Reich - in eigens installierten Gaskammern, in sogenannten Hungerhäusern, in sogenannten Kinderfachabteilungen von psychiatrischen Anstalten - etwa 300.000 Menschen grausam zu Tode gebracht worden. Erstmals  2013 nannte der Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf diese fürchterliche Zahl bei einer Rede auf dem Marienplatz in München. Auch mindestens 3000 Bürgerinnen und Bürger der Stadt, wo das Schreckensdrama uraufgeführt wurde, zählten zu den Opfern. Jahrzehnte lang hat weder die Stimme der Überlebenden noch die der Angehörigen hierzulande Gehör gefunden.  In der Öffentlichkeit wie in der Psychiatrie sei über das Geschehen geschwiegen worden. sagte Hohendorf. Den „Euthanasie“-Geschädigten sei ebenso wie den zwangssterilisierten Menschen eine angemessene Entschädigung verwehrt geblieben.

Eine Erinnerung. Foto: Christoph Wilker

Die systematisch betriebene "Ausmerze der „nutzlosen Esser“ (der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich, dass ihm eine mit  Bildern und Filmen illustrierte Abwertung schon in der Hitlerjugend aufgedrängt wurde) begann mit einem Führererlass. Und sie verlief ebenso bürokratisch wie später der Massenmord an den Juden, als dessen „Probelauf“ die Aktion T4 von Historikern bezeichnet wurde. Auf Meldebogen mussten die Anstaltsleiter zunächst alle Pfleglinge mit „Erbkrankheiten“ registrieren, darüber hinaus auch Alkoholabhängige und Schwachsinnige.

Die fatale Entscheidung traf der Anstaltsleiter. In Haar war es der Neurologe Professor Hermann Pfannmüller. Nach Gutdünken und Gesinnung malte er infamerweise ein rotes Kreuz auf den Meldebogen. Es bedeutete den Abtransport in die für den „Gnadentod“ vorgesehenen Zentren - und in der Regel den Tod. Behinderte mit „eingeschränkter Arbeitsleistung“ und nicht arische Patienten hatten keine Chance.

Auf diese Weise wurden über 2400 Pfleglinge von oder über Haar deportiert. Das dokumentiert heute dort ein kleines Museum, wo auch Erinnerungen an einige „berühmte Patienten“  ausgestellt sind (etwa das Krankenblatt, das dem kriegsmüden, simulierenden Soldaten Oskar Maria Graf im April 1916 eine „Hysterie“ attestierte). Der Tod durch Ersticken erfolgte in der Regel durch Kohlenmonoxyd. Die Leichen wurden am Ort verbrannt. Den Angehörigen wurde Ableben durch Lungenentzündung und dergleichen vorgegaukelt.

Haar diente obendrein als Drehscheibe. Professor Walther Schultze und Regierungsrat Max Gaum vom Bayerischen Innenministerium organisierten – wie das TU-Institut ermittelt hat -  die Verlegung eines Großteils der Bewohner der kirchlichen Heilerziehungs- und Pflegeheime. Über 500 Pfleglinge wurden allein aus Schönbrunn im Dachauer Moos abtransportiert, nur 293 überlebten. In der „Associationsanstalt“ einer klösterlichen Tuberkuloseklinik waren behinderte Kinder untergebracht.

Meist fuhren die Abholer mit den geisterhaften „grauen Bussen“ vor, wenn die Franziskanerinnen beim Frühgebet waren. Manchmal rissen sich Kinder los und klammerten sich in Todesangst an ihre Betreuerinnen, wie eine von ihnen später noch schaudernd berichtete. Der Anstaltsseelsorger Josef R. soll die Vorgänge an Kardinal Faulhaber gemeldet haben – von einer Reaktion wurde nichts bekannt. Die Korrespondenz mit dem Erzbischöflichen Ordinariat war nach dem Krieg in Schönbrunn verschwunden.

Der Vorstand der Stolperstein-Initiative Terry Swartzberg. Foto: Christoph Wilker

Bekannt wurde indes eine mutige Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, gegen den staatlich befohlenen „Gnadentod“. Es gab Unruhe im Volk. Daraufhin stoppte Hitler am 24. August 1941 die Aktion "T4“. Offiziell. Doch das Morden ging weiter – dezentral, heimlich, heimtückisch. Im Herbst wurden „Kinderfachabteilungen“ in Eglfing-Haar eingerichtet; hier wurden 330 Kinder und Jugendliche ermordet, meist durch hohe Dosen Luminal in Breiform. Nachgeholfen wurde notfalls mit Schlafmitteln.

Eine weitere Anregung kam wieder aus Bayern. Auf einer Konferenz im Münchner Innenministerium am 17. November 1942 erfand und empfahl der Direktor der Anstalt Kaufbeuren, dessen Nachfolger von Cramer heute der führende Kopf bei der Aufklärung ist, eine fürchterliche Methode: „Wir geben ihnen kein Fett, dann gehen sie von selbst.“ In abscheulicher Logik wurden nun in Eglfing-Haar zwei Pavillons in „Hungerhäuser“ umfunktioniert. Dort kamen dann weitere 440 Menschen ums Leben – darunter Max Sax. „Unruhig“, „stumpf“, „abgebaut“ – so die ärztlichen Befunde, die nichts anderes als Todesurteile waren.

Allein der Anstaltsleiter Pfannmüller, der auch als NS-Gauredner auftrat, soll in Haar 1119 „Geisteskranke“ als lebensunwert beurteilt und Tausende von weiteren Tötungen empfohlen haben; vielen Kindern in den „Fachabteilungen“ gab er selber die Morphinspritze. Er wurde 1961 vom Schwurgericht München zu fünf Jahren Haft verurteilt, doch war die Strafe großenteils durch Internierung und Untersuchungshaft abgegolten. Der Mann starb zehn Jahre später. Die weit verzweigte Anstalt führt heute den unverfänglichen Namen „Isar-Amper-Klinikum München-Ost“ und betreut jährlich etwa 15.000 Patienten.

Nachweislich neun Kranke hat der in Schönbrunn tätige Tbc-Arzt Hans-Joachim Sewering mit Diagnosen wie „Unruhe“ oder „störendes Verhalten“ nach Haar geschickt, vier der Frauen wurden umgebracht. Nach dem Krieg machte Sewering, früher SS- und NSDAP-Kämpe und dann aktives CSU-Mitglied, eine steile Karriere: Leiter einer Gemeinschaftspraxis und eines Fachkrankenhauses in Dachau, Honorarprofessor für Sozialmedizin, Mitglied des Bayerischen Senats, Präsident der Bundesärztekammer. Erst als er 1973 gar noch für die Präsidentschaft des Weltärzteverbandes kandidierte, kam seine Verstrickung in das NS-Euthanasieprogramm ans Licht. Dennoch rühmte der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, im Juli 2010 dem Verstorbenen nach, er habe sich um den „Erhalt eines freiheitlichen Gesundheitswesens“ und um die „Wahrung ethischer Normen“ verdient gemacht.

Der Direktor der Kloster-Anstalt Schönbrunn, an deren Kirche heute eine kleine Tafel an das Geschehene erinnert, hat sich nach dem Krieg sogar als Widerstandskämpfer gebärdet. Er habe, behauptete Josef Steiniger, die Einrichtung des Ordens dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen. Erst 2010 konnte nachgewiesen werden, dass der hoch geehrte Geistliche, der 1965 als Hausprälat des Vatikan verstorben war, mit der Tötungsaktion der Nazis unmittelbar verbunden war, ja, dass er schon zuvor schon bei der Zwangssterilisation von geistig Behinderten eifrig mitgemacht hatte.

Neu und noch nachträglich erschreckend ist auch die Erkenntnis des Medizinhistorikers Hohendorf und seiner Mitarbeiter, dass sich im Verlauf des Krieges der Kreis der nationalsozialistischen „Euthanasie“ immer mehr ausgeweitet hat: nach den kranken „nutzlosen Essern“ sollten Fürsorgezöglinge, Insassen von Arbeitshäusern, körperlich und psychisch erkrankte Zwangsarbeiter und sogar Menschen, die der Bombenkrieg seelisch zermürbt hatte, in Sammellager kommen - die letzte Station vor dem „Gnadentod“. Vieles ist da noch zu klären.

Der erste kleine Stolperstein, die kleine Tafel in Schönbrunn, der kleine Gedenkstein in Haar sollen nicht alles gewesen sein, was in Bayern an die vergessenen Opfer und die Täter gemahnt. So wünschen die Mitarbeiter des Forschungsprojektes, dass die vollen Namen aller ermordeten Münchner Bürger in einem gedruckten und öffentlich zugänglichen Gedenkbuch genannt werden dürfen. Doch da ist noch die Bürokratie vor; sie bemüht vorerst das Archivrecht und den Datenschutz.

Der Stolperstein wird am 22. Mai 2014 um 13.30 Uhr vor der Von-der-Tann-Straße 7 in Anwesenheit des Schöpfers der Stolpersteine, Günter Demnig, und des Leiters der Arbeitsgruppe "Psychatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus", Prof. Dr. Michael von Cranach, verlegt.

22.5.2014: Einige Angaben zur Statistik der Stolpersteine wurden nach einem Hinweis von Terry Swartzberg korrigiert.

Hinweis zur Sache (26.5.2014): Die Firma "pARtcours" hat eine App zum leichten Entdecken der Stolpersteine in München entwickelt: Benutzer der App werden benachrichtigt, sobald sie sich mit ihrem Mobilgerät in der Nähe eines Stolpersteines befinden. Sie können dann nähere Informationen zur Biografie und, soweit bekannt, zum Schicksal der Menschen abrufen, die an der betreffenden Stelle gelebt haben. Außerdem zeigt eine Übersichtskarte die Position aller Münchner Stolpersteine an. Die digitalen Stolpersteine sind von jedem Standort aus anzuklicken und die Informationen dazu abzurufen. Die App steht kostenlos über die App-Stores aller gängigen Mobiltelefon-Plattformen zur Verfügung. Nähere Informationen gibt es auf der Internetseite http://stolpersteine.partcours.de/

Veröffentlicht am: 21.05.2014

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