Stefan Kastners "Germania II Paradiso" im Schwere Reiter

Auf dem Highway to Hellwig ins Münchner Paralleluniversum

von Michael Wüst

Fatima Dramé, Dominik Wilgenbus, Susanne Schroeder, Uli Zentner, Viktoria Strauss, Philipp Brammer. Foto: Franz Kimmel

Der Kult-Theater-Poet Stefan Kastner hat nach „Germania 1 – Dinkelhofen“ mit „Germania 2 –Paradiso“ das imaginäre München um weitere überflüssige und abgelaufene Klischees bereichert. Klittern und kleistern, dass die Bühnenschwarte kracht. Oder sagen wir's einfach: Oane aufd Fotzn. Das gedoppelte München der Leberkässemmel-Polizisten, Obststandl-Didies, Chemisettl-Majestäten, Kommissare, geschüttelt Gerührten und ewigen Stenzen braucht ständig Nachschub an frischen Abziehbildern – das hat Stefan Kastner in der Einsamkeit des Theaterlenkers erkannt. Die Zuschauertribüne im Schwere Reiter war denn auch rucki-zucki voll mit B-Promi-Klonen.

Dem Bühnenbild von Udo Vollmer gelingt trotz abgestandenem und durchgesessenem Fifty-, Sixty-Mobilar, einem Max-Streibl-Jugendfoto nebst Pfeil mit Richtung „Verwaltungstrakt“ und einmal GMD Sawallisch in Essig und Öl an der Wand, seltsamerweise komplette Ironiefreiheit. Die altdeutsche Telefonanlage im Zentrum der Intendantenmacht - eigentlich wunderschön und auch die creme-gruseligen Barhocker bei Charles Schumann - perfekt, trotzdem erschien die zugestellte Bühne nackt, fast kalt. Neben der Bar, an der später jener Charles Schumann (Uli Zentner) dem Pfundsweib Kiki von Hohenlohe (Inge Rassaerts) und Renate Bachmeier (Michaela May) fachgerecht zwei Nymphenburg Piccolos aufschrauben würde, stand ein aus Pressplatten zusammengeschraubter kackbrauner Kasten, aus dem mittig eine Gerüststange ragte. Aha, das „Paradiso“.

Eine Scheußlichkeit, die zweifellos nach Brustimplantaten und Aufgespritztem schrie. So schweifte der Blick von rechts, dem Hauptquartier der Intendanz über die Mitte der Besetzungscouch und Schumanns-Lufthansa-Cocktail-Übelkeit nach links zur Table Dance Bar „Paradiso“, inklusive Boxsack und bauchwehrotem Spind. Durchaus konsequent, hier ließ sich grausam walten und gut lustig sein! Zeitenfolge, örtliche oder sprachliche Differenz, Entwicklungen, Geschichten, gar Fallhöhen? Wo denken sie hin? Ohne jede Sorge ging es bei Kastner zur Sache. So platt der Plot, so gut gegeben war allerdings einiges: Der Operndirektor Bubi Bachmaier (Dominik Wilgenbus) trug schwer an der Last der Kunst, die Intendanten-Klischees saßen ihm wie Arthrose in den immer noch weibergeilen Knochen. Wunderbar wie er mit von der eigenen Bedeutung geblendetem, in den Nacken geworfenem Kopf und wehendem Wallehaar den Raum durcheilte im hohen Dienst der Kunst!

Vom wiederum gänzlich unverschlüsselten Hans Werner Henze (Philipp Brammer) und der Ingeborg Bachmann (Isabel Kott) kann man das nicht sagen. Doch eine Umdrehung zu dämlich, wie die beiden die verblasenen, oberflächlichen Künstlerschnösel geben mussten. Was sie miteinander zu tun hatten, wussten sie selbst nicht, außer dass sie nach Italien wollten und H.W. Henze zum Beispiel sagte: „Dieses Rot steht dir wesentlich besser als dieses Rot, was du bisher getragen hast!“ und Bachmann entgegnete: „Mein Strohhalm ist abgebrochen!“ Beide daraufhin schnell ab. Überhaupt musste in den zwei Stunden Spielzeit unheimlich viel auf- und abgegangen werden, waren doch 25 Schauspieler und die 23 Damen des Müttergesangsvereins zu bedienen! Darunter waren einige recht sexy komödiantische Vorsing-Szenen beim virtuos aufklimpernden Bubi, meistens gefolgt von dessen sexuellen Bruchlandungen. Bruha, Gesundheit!

Stark, das Paar Primadonna Gina della Casa (Aline Lettow) und Diamantenspion, Witwenficker und Türsteher Jonny (Markus Herzog)! Jonny, der in den 1970er Jahren im Truderinger Wienerwald Hammondorgel gespielt hatte, wird von Bubi Bachmaier als Cover für einen geplatzten argentinischen Heldentenorzwerg eingesetzt und beide dürfen herzzerreißend und wunderbar ein Duett schmettern. War direkt schön, aber es musste schnell weiter gehen!

Highway to Hellwig. Christiane Brammer, Dominik Wilgenbus, Inge Rassaerts. Foto: Franz Kimmel

Aufgrund des enormen Personaldrucks ergießt sich jetzt aus Streibls Verwaltungstrakt eine Armee von Maria- und Margot-Hellwig-Lookalikes, die sich schnell gegenseitig mit einer halbleeren Limo-Plastikflasche erledigen. Überflüssig zu erwähnen wäre auch, dass Türsteher-Jonny aufgrund seiner unwiderstehlichen Aura seminalis immer wieder ran muss. „Jetzt musst du die Schlagzahl erhöhen“, flötet die Prima Donna. Renate Bachmaier (Michaela May), die Mutter Bubis, die peinlich anspielungsreich eine große Schauspieleragentur geführt haben soll, muss einmal quer über die Bühne humpeln, weil es Jonny ihr so gut besorgt hatte. Grenzenloses Gelächter!

Was fehlt da noch? Richtig, a bissel a Fäkal-Humor! Melanie, Bedienung in einem Café, das es in der Weltschmelze Kastners eben auch gibt, wird zum Orchesterwart ernannt, nachdem sie es an der Stange nicht gebracht hatte. In dieser Funktion kümmert sie sich auch um den Orchestergraben, der durch die ständig Weißbier trinkenden Blechbläser und jahrelanges Aburinieren baufällig gebrunzt worden ist. Charles Schumann findet das auch nicht gut. Beide holen deshalb im Off einmal mit Atemmasken einen Stapel Pizzas. Der langen Rede kurzer und flacher Sinn, Bubi Bachmaier wird jetzt wahnsinnig. Kompositionsschnösel H. W.Henze hatte vom Walchensee angerufen und dem Intendanten eröffnet, dass er keine Oper über die Kurpfalz mehr schreiben wolle. Er war am Walchensee Fatima, einer ehemaligen Tänzerin des Paradiso, die sich zum eisverkaufenden Eremiten gewandelt hatte, begegnet. Diese führte ihn in die Mysterien des Fallwinds ein. Und deswegen will er keine Oper mehr schreiben, sondern nur ein Loch in der Decke – der Oper.

Noch Fragen? Frank Kastners Paralleluniversum ist hart an der Scherzgrenze. Aber die Doubles Münchens freuen sich. Sie haben Gesellschaft von ein paar neuen Abziehbildern bekommen.

Veröffentlicht am: 04.04.2014

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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R. Bonk
12.02.2017 16:55 Uhr

Über diese Kritik habe ich zwei Jahre nachdenken müssen. Mein Fazit: Großartig, dieser Kastner. Bernhard immer als zu schwach empfunden, zu sehr spürt man den Trakl. Kastner hingegen rücksichtslos genau und analytisch, häßlich, unverständlich und absurd.