Eine Kurzgeschichte von Herbert W. Franke

Rausch

von kulturvollzug

Eigentlich war unsere kleine Reihe mit sieben Kurzgeschichten von Herbert W. Franke schon zu Ende gegangen. Um so mehr freuen wir uns, nun doch noch insgesamt drei weitere Storys des Science-Fiction-Autors in unserer Rubrik Textraum präsentieren zu dürfen. Den Anfang machen wir mit "Rausch" - ein Text aus dem vergriffenen Taschenbuch-Band "Der grüne Komet".

Von Herbert W. Franke

Das, was die Rauschgifte auf den Menschen ausüben, sind zufällige Effekte, Nebenerscheinungen einer chemischen Konstitution, die eigentlich ganz andere Aufgaben hat. Die synthetische organische Chemie wird Substanzen erzeugen, die das Fühlen und Denken in viel grundlegenderer Weise beeinflussen. Das heutige Problem der Berauschungspräparate sind die pathologischen körperlichen Auswirkungen. Diese wird man einst vermeiden können, man wird sich berauschen können ohne körperlichen Schaden befürchten zu müssen. Das ist vielleicht noch bedenklicher.

"Albert Einstein" Abb.: Archiv HWF

Ich wollte mich nur verabschieden.

Einige von ihnen lagen bereits in ihren Liegesesseln und starrten mit verdrehten Augen zur Decke. Andere saßen um mich herum, die Mealkugeln vor sich. Es raschelte und knackte, sooft sie die Plastikhüllen lösten.

»Was willst du?« fragte Koschitz. »Zurück auf die Erde? Zur Braut? Zur Mutter? Du Dummkopf, was hast du davon? Koste eine Nuß – und du bist geheilt!«

»Ich nicht!« sagte ich. Ich Narr!

Ich riß die spröden Häute ab und steckte den olivgrünen Kern in den Mund. Es schmeckte nach Apotheke und roch nach Spital. Mich ekelte, aber etwas änderte sich. Der rauchige Raum sank zurück, nur die Tischplatte lag wie eine riesige Ebene vor mir. Mein Kopf schlug darauf, meine Hände verkrampften sich hinter dem Rücken. Ich befand mich in einer schwerelosen Welt, in der ich körperlos dahintrieb. Ich spürte etwas auf mich zukommen, etwas Herrliches und Grauenvolles zugleich. Ich wollte es fassen, aber ich erreichte es nicht. Aus weiter Ferne rollte eine Wand auf mich zu, zwei Ecken bogen sich ein, Dunst wallte auf, die Kneipe lag wieder vor mir.

»Na«, rief Koschitz, »hast du genug? Bleibst du bei uns? Nimmst du noch eine? Hast du Angst, daß du schwach wirst?

«Ich griff noch einmal nach der Schachtel. Etwas Trockenes lag zwischen meinen Fingern und der Hülle. Es war meine Haut, die sich wie Papier anfühlte. Das zu einer Kugel gepreßte Pulver zerschmolz auf meiner Zunge...

Etwas drehte sich unter mir hinweg. Meine Augen wurden starr, die Umgebung verschleierte sich, ich fiel und wurde sanft aufgefangen. Wesen waren um mich, deren Flügelschlag mich zart streichelte. Ich merkte, das Wunderbare war in der Nähe. Ich konnte es nicht sehen, nicht hören, nicht riechen. Aber es erfüllte die Luft und verdichtete sich spürbar. Ich spannte alle Kräfte an, um es zu fassen. Aber wieder entwich es. Ein grauer Vorhang senkte sich darüber, durch den sah ich den Kopf von Koschitz. Seine aufgesprungenen Lippen bewegten sich:

»Eine dritte verträgst du nicht! Schwächling! Esel! Feigling! Schwein! Na, nimm schon. Keiner von uns kann hier fort. Warum sollst du es können!«

Meine Finger tasteten nach der Kugel. Ich senkte meinen Mund zur flachen Hand, um sie aufzunehmen. Heiß rann es meinen Gaumen hinunter.

Die helle Haut meiner Hand wurde zu einem Flammenmeer. Ich schwebte. Ich sah Farben, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Es war ein Meer von Farben, Klängen, Düften. Ich brauchte keine Gliedmaßen, um mich zu bewegen. Die Kraft meines Willens genügte. Alles war kristallklar. Ich sah bis in den letzten Winkel der Ferne. Alles, was an Klängen in der Luft war, konnte ich an mich heranholen. Ich las die Gedanken der Wesen um mich herum, zu denen ich auch gehörte. Ich war eins mit dieser Welt.

Und dann war noch etwas da, etwas, das erbarmungslos und grausam war, das man aber herbeisehnen mußte, etwas Riesiges, Furchtbares, Unfehlbares und Tröstliches. Etwas, das man unablässig suchte – das Ziel, das den Sinn gibt. Auch ich werde nie aufhören, es zu suchen...

Einige blasse Figuren schwankten vor mir. Koschitz? Sirk? Schemen des Unwichtigen, Unklaren, in das ich bisher verbannt war. Jetzt erst habe ich erkannt, was Wirklichkeit ist. Das Elternhaus, die Braut? Was bedeuten sie? Gibt es sie überhaupt? Aber es gibt die farbige Welt. Noch eine Kugel. Wo ist eine Kugel? Ich muß eine Kugel haben! Versteht ihr denn nicht? Ich brauche eine Kugel!

 

Dieser Text stammt ursprünglich aus dem vergriffenen Taschenbuch-Band "Der grüne Komet" von Herbert W. Franke und ist hier Teil einer kleinen Reihe mit diesem Autor. Das Buch ist zum Teil noch antiquarisch erhältlich, zum Beispiel hier.

Einige Erläuterungen zu Autor und Anlass finden Sie bei der ersten Folge. Weitere Informationen zu Herbert W. Franke auf seiner eigenen Seite sowie bei Art Meets Science.

Veröffentlicht am: 16.02.2013

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