Eine Kurzgeschichte von Gabriele Müller

Schaum und Berge

von kulturvollzug

Heute beginnen wir diese Reihe mit einer Geschichte über Marie und ihren Opa sowie die Frage, was Stühle mit Schlagundschattenseiten für das Leben bedeuten.

 

„Sie wird meine Schönheit bekommen und deine Intelligenz.“

„Hoffentlich“, sagte der werdende Vater.

Es kam anders als geplant, und alle waren ziemlich enttäuscht.

Die Eltern sahen jedoch keine Möglichkeit, sich mit dem Schicksal zu arrangieren, und gingen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit getrennte Wege.

Möglich, aber sinnlos: Ein Leben ohne Dino Zoff. (Illustration: Andreas Wiedemann)

*

Marie wurde rund, blieb klein und war in der Schule eine Niete.

So sind die Dinge des Lebens eben, dachte sie sich schon in jungen Jahren. Manchmal sprach sie auch über die Dinge des Lebens. Mit Dino Zoff. Dino Zoff war ihr Idol, weil er das Idol ihres Großvaters war, den sie liebte und bei dem sie wohnte. Dino Zoff hieß ihre afrikanische Puppe, eine Puppe, die auch schon bessere Tage gesehen hatte.

„Den Dino Zoff haute so schnell keiner um. Der war ein echtes Urgestein“, sagte der Großvater gerne und betonte immer wieder, dass ein Leben ohne Dino Zoff zwar möglich sei, aber keinen Sinn mache.

Der Großvater war eine Art Ich-AG und fuhr meist im ersten oder im zweiten Gang. Sehr selten im dritten. Vor dem dritten hatte er eine Hemmschwelle. Der vierte und der fünfte Gang waren für ihn Hollywood: eine surreale Angelegenheit.

Wenn er nicht gerade im ersten oder zweiten Gang fuhr, handelte er mit Kunststoffswimmingpools, die auf seinem Gewerbehof in verschiedenen Größen hochkant nebeneinander standen – hellblaue Plastikbecken auf grünem Rasen.

Marie wuchs auf mit leeren Swimmingpools und einem alten Mann, der nicht gut Auto fahren konnte. Und als sie beide eines Tages in einer Pizzeria Maries sechzehnten Geburtstag feierten und sie seiner Meinung nach alt genug war für Wahrheiten, sagte er: „Deine Mutter ist eine dumme Kuh. Hübsch und dumm.“

„Ich bin nur dumm“, sagte Marie.

„Hübsch und dumm ist schlimmer“, sagte der Großvater, dessen Brille so groß war, dass sein Gesicht dahinter ein Schattendasein fristete.

„Ich wäre schon gerne hübsch.“

„Dann bist du irgendwann nicht mehr hübsch, und nicht mehr hübsch und dumm ist noch schlimmer als niemals hübsch gewesen, aber immer schon dumm.“

Marie sah den Großvater sehr lange an.

„Wann ist ein Mensch hässlich, Opa?“

„Wenn er sich selbst hässlich findet, vielleicht ..."

„Wenn ich mich nicht hässlich finde, aber alle anderen sagen, dass ich hässlich bin, was zählt dann mehr?“

„Du zählst mehr. Aber es ist natürlich ganz schön happig. Weil du einer gegen alle bist. Das ist wie Elfmeterschießen. Da brauchst du Nerven wie Stahl.“

„Stahl ist stabil“, sagte Marie und zog den geschmolzenen Mozzarella mit der Gabel kreuz und quer über die Pizza Margarita. „Stahl ist nicht kaputtmachbar.“

„Deine Mutter hatte keine Nerven. Schön, dumm und hysterisch dazu.“

„Und wann ist man dumm?“

„Dumm ist man immer wieder mal. Dumm ist der Fehler in der Suppe. Tut man aber ein bisschen Salz in die Suppe, ist die Suppe gerettet.“

„Das ist schön. Wenn man eine Suppe retten kann. Ich rette immer nur kaputte Stühle, keine Suppen.“

„Ob Suppen oder Stühle oder Swimmingpools ...“

„Ich klebe sie zusammen. Aber man muss sehen, dass was nicht stimmt. Ich hab Angst, wenn alles stimmt.“

„Nichts ist verdächtiger, als wenn alles stimmt. Das kannst du mir glauben, mein Kind.“

„Dir werde ich auch einen Stuhl machen. Damit du einen Platz hast.“

„Ein Stuhl mit Schattenseiten für deinen alten Großvater mit Schlagseiten.“

Sie lachten beide.

„Opa, warum sind Schauspielerinnen schön?“

„Damit das Leben im Film nicht zu viel Ähnlichkeit hat mit unserem Leben.“

„Gibt es einen Beruf für Hässliche?“, fragte Marie.

„Vielleicht Stühle retten?“

*

Der Stuhl für den Großvater war unten ein rollender Vorstandssessel aus der Automobilbranche, Premiumsegment. Die Sitzfläche hatte Marie mit einem alten gelben Regenmantel überzogen. Die linke Armlehne stammte aus einer Zollbehörde, die rechte aus dem Salon Michelle. Der Rest war Flohmarkt.

Für das Rückenteil nähte Marie zweiunddreißig kleine Kissen aus lilafarbenem Samt, füllte die Kissen mit Heu, stanzte an den Rändern Löcher hinein und verknüpfte die Samtkissen mit fester Paketschnur.

Wundersamerweise passten die verschiedenen Elemente zusammen, und alles fügte sich zum Besten.

„Du bist ein Chef, und Chefs brauchen einen Stuhl“, sagte Marie und präsentierte dem Großvater schließlich das Möbelstück. „Den schenke ich dir, weil heute dein Namenstag ist.“

„Wie heiße ich denn?“

„Opa.“

„Stimmt.“

*

Wenig später begann Marie eine Ausbildung als Flechterin, und der Großvater richtete ihr auf seinem Gewerbehof eine Werkstatt für Stühle mit Schlagundschattenseiten ein.

Er besorgte ihr Ripsbänder, Stahldraht, Bast und Weiden, Hansaplast, Wäscheleinen – alles, was Marie brauchte. Und weil ihr das Mathematische fremd war, kümmerte er sich darum, dass es von allem stets genügend Meter gab.

Mittags trafen sie sich in der Küche, aßen zusammen und schalteten die rosafarbenen Lämpchen des silbernen Kunststofftannenbaums ein. Tagaus, tagein.

„Alle sagen immer, dass mein Christbaum hässlich ist. Ein Naturtannenbaum direkt aus dem Wald ist viel schöner, sagen sie. Ich bin komplett natur und hässlich ... Also.“

Der Großvater lächelte seine Enkeltochter an. Er hätte keine andere haben wollen.

*

Eines Tages kam der Mann sie besuchen und machte Fotos von den Schlagundschattenseitenstühlen.

Marie und ihr Großvater standen daneben und staunten nicht schlecht.

Feng Shui, Wabi-Sabi, Shabby Chic, kompulsive Provokation, puristische Ambition, brüchige Perfektion – im Ensemble trendlos verspielt.

Seine Worte segelten Marie um die Ohren. „Opa, ich glaube, der spinnt. Der ist noch dümmer als ich.“

Der Mann fühlte sich nicht angesprochen.

„Dümmer, als die Polizei erlaubt“, sagte der Opa.

Der Mann fühlte sich nicht angesprochen.

„Was sollen wir machen, wenn er mich etwas fragt?“

„Dann sage ich, dass du sensibel bist“, antwortete der Großvater. „Sensibel ist ein Wort, das mögen solche Leute wie der da. Eine echte Künstlerin eben‘, wird er sagen. ,Künstler müssen sensibel sein. ‘“

„Bedeutet sensibel dumm?“, fragte Marie.

„Im Grunde genommen schon. Aber das weiß so gut wie keiner. Nur wir zwei wissen das.“

„Sind Künstler schön?“

„Nicht unbedingt.“

Der Mann wollte eines der Unikate, und der Großvater wollte zweitausend.

„Das wird uns bestimmt nie wieder passieren“, sagte Marie ein Stündchen später. „Dass einer einen Schlagundschattenseitenstuhl von uns kauft.“

„Von dir.“

„Von uns.“

„Und was willst du mit dem Geld machen?“, fragte der Großvater. „Sollen wir eine Reise machen ans Meer?“

Marie schüttelte den Kopf.

„In die Berge?“

Marie schüttelte den Kopf.

„Kaufen wir eine Krone für dich und einen Hermelinmantel für mich?“

Marie schüttelte den Kopf.

„Was machen wir dann?“, fragte er.

„Ich will ein Schaumbad in den Swimmingpools“, sagte Marie. „In allen Swimmingpools.“

„Zum Reinlegen?“

„Nein. Zum Anschauen.“

*

Der Großvater ließ die Vorführswimmingpools auf den Rasen knallen, schüttete literweise Lavendelschaumbad hinein und füllte die Becken randvoll mit Wasser.

Dann setzte er sich neben seine Enkeltochter auf einen der Stühle aus der Kollektion Feld und Wiese und bewunderte mit ihr zusammen die Schaumberge.

„Gefällt es dir?“, fragte er sie.

Marie nickte.

„Ein sehr gelungener Moment“, sagte er. „Und du hast immer noch eintausendneunhundertdreiundsiebzig Euro ...“

Marie wandte sich ihrem Großvater zu und zwickte ihn in den Arm:

„Opa, wer ist eigentlich Dino Zoff?“

Von Gabriele Müller ist im Ars Vivendi Verlag der Kriminalroman „Dress-Code“ erschienen.

Veröffentlicht am: 09.03.2012

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