Pierre Boulez gastierte in München: Jubel und Wehmut zum Auftakt der musica viva

von kulturvollzug

Relaunch der musica-viva-Saison des Bayerischen Rundfunks im Prinzregententheater: Das Lucerne Festival gastierte mit Pierre Boulez als Dirigent-Komponist seines Liederzyklus "Pli selon pli". Ein umjubelter Auftakt der Spielzeit.

„Pli selon pli“ als musica-viva-Spielzeiteröffnung vom Neutöner-Grandseigneur Pierre Boulez?  Das kann nur „pling, plang, plong“ bedeuten, wenn man sich der kurzatmigen Floskeln der Neuen Musik der 1950er Jahre erinnert! Aber es heißt: „Falte für Falte“, eine fünfteilige, achtzigminütige Vertonung von Gedichten des französischen Dichters Stéphane Mallarmé, einer der Hauptprotagonisten des sprachlich und inhaltlich hermetischen Symbolismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Wer den im Programmheft abgedruckten Texten folgte, verstand garantiert die wohl artikulierten Worte. Viel spannender war es aber, der Sängerin ins Gesicht zu schauen,  mitzuatmen: Die wunderbare Sopranistin Barbara Hannigan sang die Boulezsche Umsetzung dieser Gedichtmysterien wie eine perfekte expressionistische Singmaschine.

Tatsächlich spinnt sich diese Musik kleinteilig fort, besteht das Material aus Notenzellen, kleiner als kurze Motive. So deutet sie Boulez in jede Richtung, die diese Musik nehmen soll. Er schrieb diesen Liederzyklus binnen einiger Jahrzehnte als „Erholung von formaler Strenge“. Wie ein Barockkomponist setzt er das Orchester nicht romantisch gemischt, sondern blockhaft ein: links die Streicher, rechts alle Bläser, hinten das Schlagwerk, in der Mitte Tasten- und Zupfinstrumente, diese um Gitarre und Mandoline erweitert. Das von Boulez selbst dirigierte, „französisches Staatsorchester für Neue Musik“ zu nennende Pariser „Ensemble Intercontemporain“, erweitert um Musiker der diesjährigen Lucerne Festival Academy, wieselte sich durch die Tücken der vertrackten Takt- und Tempowechsel, baute am Anfang und Schluss ätherische Flächen auf, ließ jede Gruppe wie ein Instrument  klingen, meisterte die vielen, unzählbaren hochvirtuosen Soli der Mittelstücke und durfte auch mal so richtig aufdrehen, wo andere Dirigenten sofort übervorsichtig abdämpfen.

So brachte die musica-viva-Eröffnung unter neuer Ägide ein auf Sommerfestspielen geborenes Produktionsjuwel in das perfekt altweibersommerglänzende München. Dass die Tournee etwas ermüdend sein dürfte, zeigten die wie im Schlaf herabhängenden Köpfe der oft minutenlang pausierenden Musiker. Um so heftiger am Ende allseitiger Jubel, Ovationen, die wie ein Abschied auf lange Zeit von Boulez wirkten. Erst ein klares Zeichen von ihm höchstselbst beendete die Applausorgie. Die Saison begann somit wehmütig und dennoch vielversprechend.

Alexander Strauch

Veröffentlicht am: 10.10.2011

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