Wirklich wahr!

von Michael Weiser

"Réalisme" überschrieb Gustave Courbet im 19. Jahrhundert seine Protestausstellung und befeuerte damit eine alte Diskussion: Kann Kunst Wirklichkeit abbilden? Die Hypo-Kunsthalle lädt ein zum "Abenteuer Wirklichkeit" - mit einer Riesen-Ausstellung zum Realismus und dessen Erben.

Zunächst mal herzlichen Glückwunsch: Die Hypo-Kunsthalle feiert 25. Geburtstag, und das bei bester Gesundheit. Das Haus hat sich längst etabliert in der durchaus reichhaltigen Münchner Kunstszene, mit einem Programm, das die einen zu Schmähreden gegen die "Event-Kultur" reizt, die anderen aber zum Lob anregt. Schließlich vermittelt die Kunsthalle Anspruchsvolles mit größtem Erfolg. Rund 300 000 Besucher im Jahr - das kann sich sehen lassen. "Wir haben keine Angst vorm breiten Publikum", sagt denn auch Kunsthallenleiterin Christiane Lange selbstbewusst.

Auch die aktuelle Ausstellung wird ziehen, so viel scheint klar. Da sind die großen Namen, Edward Hopper, Andreas Gursky, Christian Schad und viele andere. Der Gegenstand tut das Seine. Schließlich ist figürliche Malerei längst wieder im Trend, die (westdeutsche) Festlegung auf die Abstraktion als politisch garantiert unverdächtiger Akt scheint überwunden. Das breite Panorama des Figürlichen malt die Kunsthalle mit einem opulenten Angebot: 180 Werke von 120 Künstlern, die eine Bandbreite vom Realismus Courbets und seiner Mitstreiter über die Neue Sachlichkeit und den Fotorealismus bis hin zur vielschichtigen Szene der vergangenen zwanzig, dreißig Jahre abdecken. Bei allem präsentierten Reichtum wird der eine oder andere doch etwas vermissen: Gursky und Hopper sind spärlichst vertreten. Und was ist mit den vielen beachtenswerten ostdeutschen Künstlern? Alles Agitprop? Nicht jeder Maler in der DDR warf sich in die starken Arbeiter- und Bauernarme des sozialistischen Realismus.

Vielleicht war's auch einfach schon zuviel. 180 Werke - das fordert auch den Zuschauer, dem immerhin schnell eines klar wird: Wirklichkeit ist nicht so sehr das, was der Künstler mit Akribie und Blick fürs Detail abbildet, sie findet auch im Kopfe des Betrachters statt. Erst seine Erfahrungen und seine Erwartungen ordnen die von den Sinnen übermittelten Eindrücke. Und so erlebt jeder sein eigenes "Abenteuer Wirklichkeit".

Etwa bei Edward Hoppers "Hotel Lobby" aus dem Jahre 1943. Vier Personen sieht man im Foyer eines Hotels verteilt, vertieft in ein beredtes Schweigen. Was dem einen eine typische Hotel-Szene ist, erlebt manch ernüchterter Zeitgenosse als Parabel auf die Unbehaustheit des modernen Menschen. Und wo der eine den Eingang in den Speisesaal vermuten mag, wittert der andere dunkel lockende Gefahr. Ein berühmtes Foto des gebürtigen Münchners Thomas Hoepker zeigt Yuppies am Ufer des Hudson. In der Ferne ragt die Skyline von Manhatten auf, dunkle Rauchschwaden verdunkeln den kurz zuvor noch strahlend blauen Himmel. Die jungen Menschen plaudern miteinander, noch haben sie nicht begriffen, was an jenem Spätsommertag des Jahres 2001 über New York hereingebrochen ist. Für uns Heutige offenbart die Szene weit die Erinnerung an eine Katastrophe. Im Rückblick stehen die Rauchschwaden für die Chiffre "911" und damit für das Ende der Lockerheit und den Auftakt einer Ära der Unsicherheit.  Wirklich wahr? Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

"Realismus - Das Abenteuer der Wirklichkeit", Hypo-Kunsthalle, bis 15. September, täglich 10 bis 20 Uhr.

Veröffentlicht am: 21.06.2010

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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markus
22.06.2010 14:29 Uhr

wirklich wahr-genommen werden ist das bedürfnis jedes schaffenden. ich nehme mit heller freude den kultur-vollzug wahr! weiter so!