Karl Stankiewitz im Originaltext von 1949 über die Aufnahme von Flüchtlingen nach dem Krieg

Als Millionen kamen - und blieben

von Karl Stankiewitz

Süddeutsche Sonntagspost vom 19. Februar 1949

Die Unterbringung von chaotischen Flüchtlingsströmen ist für Bayern kein neues Problem. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste die Bundesrepublik Deutschland elf Millionen Heimatvertriebene aufnehmen. Dazu kamen bald drei Millionen Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone. Das Grenzland Bayern hatte die Hauptlast dieser Völkerwanderung zu tragen: Seine Bevölkerung wuchs dadurch von sieben Millionen vor dem Krieg auf 9.329.000 im August 1948. Am 29. Januar 1949 bat Ministerpräsident Hans Ehard – ähnlich wie jetzt die italienische Regierung - um Hilfe der Vereinten Nationen, „da dieses Problem kein rein bayerisches und kein rein deutsches, sondern ein europäisches ist“. In einer am 19. Februar 1949 in der „Süddeutschen Sonntagspost“ erschienenen Reportage schilderte der heutige KV-Autor Karl Stankiewitz, wie „Die erste Flüchtlingsstadt“ entstand; wir geben sie leicht redigiert und gekürzt wieder.

In knapp drei Monaten wurde unweit von Dachau, in einem Teil des ehemaligen Konzentrationslagers, die erste Flüchtlingsstadt Westdeutschlands aus dem Boden gestampft. Ab 1. März <1949> werden hier über 2000 Heimatvertriebene aus dem Sudetenland und andere Flüchtlinge eine neue, menschenwürdige Heimstatt finden. Etwa tausend Personen haben die bisher fertiggestellten Wohnblocks schon bezogen. Dieses Unternehmen stellt einen ersten Versuch dar, das Flüchtlingselend der Massenlager durch umfassende staatliche Siedlungsplanung zu überwinden.

Am Nordeingang des Lagers, wo einst die dumpfen Kolonnen der KZ-Häftlinge zur Fronarbeit in das weite, braune Dachauer Moorland hinausgetrieben wurden, vorbei an den Wachttürmen der SS und den harten, höhnischen Portallettern „Arbeit macht frei“, dort grüßt heute ein freundliches weißes Schild mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“. Im ersten Augenblick vermeint man, in eine saubere, frisch aufgebaute Mustersiedlung zu kommen: Hinter hohen Pappeln reihen sich hübsche, rechteckige Wohnblocks, die mit ihren silbernen Heraklithwänden fast etwas idyllisch in der Spätwintersonne leuchten. Die Menschen sind freundlich, sehen gut genährt aus, und die Kinder spielen wie in tausend anderen Dörfern in den Tümpeln der noch ungepflasterten Straßen.

Kommt man näher, sieht man aber die untrüglichen Zeichen der Zeit: Eingerissene Barackenwände und Ballen von Stacheldraht aus vergangenen Tagen, eine kleine Kirche hinter Drahtzäunen, und – als grausiges Menetekel – hinter dem Dorfrand, gleich bei der Schule, ragt der Turm des Krematoriums auf, in dem einst die Leichen vieler tausend Häftlinge verbrannt wurden.

Die Menschen, die heute in der Siedlung wohnen, eint ein unbändiger Wille zum Neuaufbau. Sie beginnen hier eine neue Existenz, nachdem sie, von Haus und Hof verjagt, jahrelang auf Landstraßen oder in menschenunwürdigen Massenlagern vegetieren mussten.

Das Leben ist freilich auch hier nicht leicht. Nur für fünf Prozent der Einwohnerschaft gibt es Arbeit. Die fünf Baufirmen, die mit dem Aufbau beauftragt sind, haben ihre eigenen Leute mitgebracht, damit diese nicht brotlos werden. Einige Unternehmungslustige konnten ihr früheres Gewerbe wieder aufnehmen. Aber noch geht das Geschäft eher schlecht.

„Waren für 80.000 Mark habe ich in Karlsbad zurücklassen müssen“, erzählt Herr Zuleger, der ein Papier- und Schreibwarengeschäft eröffnen will. „Jetzt muss ich ganz von vorn anfangen, buchstäblich aus dem Nichts.“ Kredite gibt es nicht, weder von der Lagerverwaltung, noch vom Staatssekretariat für Flüchtlingswesen, auch nicht von irgendeiner privaten Stelle. Herr Zuleger freut sich, dass bereits ein paar Schulkinder bei ihm Schreibhefte gekauft haben. <Aktuelle Anmerkung: Heute ist die Familie Zuleger in Dachau vielfach engagiert, etwa durch ein großes Softwarehaus.>

In einer Wohnung finden wir ein Holzschildchen „Friseur“. Wir treten ein. In einer Ecke des Zimmers steht ein wackliger Holzsessel, unter dem Spiegel liegt etwas Friseurkram. In einer anderen Ecke rührt Frau Hoffmann über dem Herd eine Suppe ein und berichtet: „Mein Mann arbeitet nebenbei als Heizer. Er kann von dem bisschen Haarschneiden nicht leben.“ Nach einem Seufzer setzt sie hinzu: „Aber wir sind doch heilfroh, dass wir endlich unsere eigenen vier Wände haben, es wird schon werden.“ Das ist die Grundstimmung im Dorf. Keiner hat die Vergangenheit vergessen oder die Schwierigkeiten der Gegenwart unterschätzt. Aber keiner schreckt zurück vor diesen Hemmnissen. Sie glauben an die Zukunft.

27.000 Quadratmeter bedeckt die Siedlung, die somit eine ausgewachsene Kleinstadt ist. Sie wird entsprechend ausstaffiert. Kirche und Schulhaus stehen schon, ein Gebäude für den künftigen Gemeinderat ist im Bau, ebenso ein Kino, ein Bad und ein größeres Kaufhaus. Auch sollen eine Maschinen-, eine Zuckerwaren- und eine Trikotagenfabrik eingerichtet werden, die bei vollem Ausbau bis zu tausend Menschen beschäftigen können.

Mit der Kirche hat es eine besondere Bewandtnis. Sie wurde von den nebenan internierten SS-Leuten erbaut. Im Inneren errichteten die Gefangenen eine Orgel aus Konservenbüchsen ihrer amerikanischen Bewacher. Vorläufig weigert sich die Verwaltung des US-Internierungslagers, die Kirche für die Flüchtlinge freizugeben, weil sie mit „amerikanischem Heeresgut“ ausgestattet sei. Herr Noack, der deutsche Leiter der Flüchtlingsstadt, glaubt sich auch in diesem komplizierten Punkt mit der Besatzungsmacht einigen zu können.

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Das Original dieses Artikels soll ins Sudetendeutsche Museum kommen, das voraussichtlich 2018 an der Hochstraße in München eröffnet werden soll. Gesucht werden noch weitere Dokumente und Objekte zur Geschichte der Sudetendeutschen nach 1945;  Angebote erbeten unter Telefon 089/48000336 bei Sammlungsleiter Klaus Mohr.

Während die weiteren bayerischen Flüchtlingssiedlungen - Neugablonz, Neutraubling, Geretsried, Traunreut und Waldkraiburg – heute selbständige Städte oder Stadtteile sind, wurde die sogenannte „Wohnsiedlung Dachau-Ost“ allmählich aufgelöst. Die Familien wurden bei Einheimischen untergebracht, was nicht immer Beifall fand. Dies hat die Bevölkerung um etwa ein Drittel vermehrt und die Struktur des ehemaligen Landstädtchens verändert. Die baufälligen Gebäude wurden abgerissen. Zwei KZ-Baracken wurden rekonstruiert. Sie wurden integriert in die 1965 errichtete Gedenkstätte für die 41.500 Ermordeten und 200.000 Gefangenen aus 34 Nationen.

Über Flüchtlinge und Lager, über Kriegsopfer, Kriegsverbrecher, Jugendnot, Kinderleid, Schieber, Faschisten und Wiederbewaffnung berichtet Karl Stankiewitz im Buch „Nachkriegsjahre“, erschienen 2006 in der edition buntehunde.

Aktuell zur Langen Nacht der Münchner Museen am 18. Oktober 2014 eröffnet die Galerie Bezirk Oberbayern die Ausstellung "Passage", die vom Leben von Flüchtlingen, von Übergängen und Grenzüberschreitungen handelt. Weitere Informationen hierzu auf der Seite des Bezirks.

Anm. d. Red. (15.10.14, 21.30 Uhr): Die Angaben zum Sudetendeutschen Museum wurden ergänzt.

Veröffentlicht am: 15.10.2014

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