Karl Stankiewitz über Visionen - und was aus ihnen wurde

Moderner, schneller, teurer - 50 Jahre Größenwahn in Bayern

von Karl Stankiewitz

Satellitenschüsseln bei Raisting. Foto: Thomas Stankiewitz

Vor einem halben Jahrhundert hat der Marsch in die Großtechnik des atomaren Zeitalters begonnen. Und man muss kein Lokalpatriot sein, um sagen zu können, dass Bayern einer der ganz wichtigen Startplätze war - so dass Franz Josef Strauß in einer späteren Regierungserklärung verkünden konnte, das von ihm regierte Land müsse der „modernste Staat in Europa“ werden. Jedenfalls überschlugen sich im Jahr 1964 die Meldungen über Innovationen, die fantastische Möglichkeiten zu eröffnen schienen. Allerdings: Fast alle dieser Projekte waren mit ungeheuren Kosten und vielen anderen Problemen belastet - oder sind letztlich gescheitert. Einige erwiesen sich als Utopien. Ein Rückblick von Karl Stankiewitz.

In Gundremmingen bei Günzburg entstand in jener Zeit das erste große Kernkraftwerk der Bundesrepublik, das jedoch erst mal Probleme bei der Beschaffung und Entsorgung von Brennstoffen hatte, denn das im Fichtelgebirge geortete Uran reichte dafür doch nicht. Eine Fülle von Störfällen führte immer wieder zur Abschaltung. Noch heute meldet der verbliebene dritte Reaktorblock die größte Energieleistung aller noch in Betrieb befindlichen acht deutschen Atomöfen, neben dem KKW Isar2 in Ohu. Diese beiden bayerischen Anlagen sind die letzten, die 2021 und 2022 vom Netz gehen sollen.

Gleichzeitig bedrohte der Bau der größten Atomforschungsanlage, die in den folgenden 50 Jahren in Europa entstehen sollte, den Ebersberger Forst. Insgeheim bot Ministerpräsident Alfons Goppel in Brüssel den 70 Hektar großen, unter Landschaftsschutz stehenden Staatswald nahe der Landeshauptstadt als Standort für den von "Euratom" geplanten Protonenbeschleuniger an. Enthüllende Berichte in den Medien, einige tausend Protestunterschriften und ein angekündigter „Marsch nach München“ ließen die CSU-Regierung dann doch vor dem technologischen Abenteuer zurückschrecken.

Begründet hatte sie ihren Vorstoß in atomare Sphären damit, dass in Garching seit 1957 ein „Atomei“ für die Wissenschaft ausgebrütet wurde und neuerdings im dortigen Max-Planck-Institut eine große Anlage für Plasmaphysik bereits Experimente zur gesteuerten Kernfusion gestartet hatte. Bei diesem immer noch ehrgeizigsten Atomprojekt der Welt, von dem man sich die Energiesicherung für alle Zukunft verspricht, wird heute nach wie vor geforscht. Der Internationale Thermonukleare Experimentier-Reaktor (ITER) in der französischen Provence hat die beteiligten Staaten bereits 6,8 Milliarden Euro gekostet. Viele Fachleute haben begründete Zweifel daran, ob die „künstliche Sonne“ jemals erstrahlen wird. Sogar Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner meinte dieser Tage als Antwort auf eine Landtagsanfrage, bei der Fusion handle sich wohl nur um einen “90er-Jahre-Hype”, von seriösen Wissenschaftlern werde dieses Verfahren als Möglichkeit der Energiegewinnung ausgeschlossen. (Hierzu gibt es eine Anmerkung 1 am Ende des Textes.)

Auch die deutsche Weltraumforschung war vor einem halben Jahrhundert ihren Kinderschuhen entwachsen. In aller Stille unternahmen Wissenschaftler des Garchinger Instituts für extraterrestrische Physik erste erfolgreiche Raketen-Experimente  mit französischen Trägergeschossen in der Sahara. Sie untersuchten die solaren Winde im interplanetarischen Raum. Zu den weiteren Zielen zählte Projektleiter Reimar Lüst im Mai: „Expeditionen zum Mond, zu Planeten und Kometen“. Dafür sei freilich die Bereitstellung „hinreichender finanzieller Mittel... unumgänglich“.

Die Bundesbahn werde bald täglich einige Züge zwischen München und Augsburg mit einer Geschwindigkeit von 200 Kilometern in der Stunde fahren, verhieß DB-Präsident Professor Heinz Maria Öftering auf der Internationalen Verkehrsausstellung in München in den 60er Jahren. Es gäbe allerdings Regierungsstellen in Bonn, schränkte er ein, die es nicht für notwendig hielten, dass die Bundesbahn so schnell fahre. Ein technischer Betrieb aber werde heute diktiert und gepeitscht von der Forderung: rascher, besser, sicherer und bequemer.

Allerdings setzte die Bundesbahn erst 1981 zwischen München und Hamburg den ersten Hochgeschwindigkeitszug ein und es sollte bis 2006 dauern, bis erstmals ein Regelzug in Deutschland die 200-km-Marke hinter sich ließ: ein ICE 3 vom Frankfurter Flughafen nach Bonn. Japans und Frankreichs neue Züge waren vorher schon schneller. Deutschland setzte vielmehr technisch und finanziell auf den Transrapid, der nach Verbrauch von 1,8 Milliarden Euro ins Nirgendwo entschwebte.

Im Oktober 1964 war die erste Satelliten-Empfangsstation Mitteleuropas, die die Bundespost bei Raisting in Form von riesigen Parabolantennen für 40 Millionen Mark errichtet hatte, für den transatlantischen Weltraum-Nachrichtenverkehr empfangsbereit. Ein bisschen zu spät für die geplante Übertragung der Olympischen Sommerspiele in Tokio, denn die betroffenen Bauern hatten Widerstand geleistet und außerdem war das Satelliten-Netz noch nicht komplett. Die folgenden geostationären Satelliten ließen die deutsche Pioniertechnik rasch veralten. Ab 1985 war Funkstille. In der großen Traglufthalle fanden wilde Partys statt. Später wurde beschlossen, das „Radom“ für die Öffentlichkeit als Industriedenkmal zu öffnen. Ein Förderverein will Führungen anbieten.

Nachdem das Verkehrs-Inferno am Stachus zum Dauerärgernis geworden war, rang sich der Münchner Stadtrat im November 1964 einstimmig zu einem radikalem Eingriff durch: Unter dem angeblich verkehrsreichsten Platz Europas sollte eine Superladenstadt mit künstlichem Licht auf einer Fläche von 14.200 Quadratmetern entstehen. Bei den Aufwühlungen sollten gleich die Fundamente einer künftigen U- und S-Bahn gelegt werden. 44 Millionen Mark waren dafür angesetzt. Sechs Jahre später erst, nach chaotischen Behinderungen, wurde das größte Tiefbauwerk Europas feierlich eröffnet. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel verglich es dabei mit der Cheopspyramide und Julius Kardinal Döpfner mit Babylon. Die Baukosten waren bis dahin auf 163 Millionen Mark geklettert. Und immer wieder musste saniert werden.

In Ottobrunn, wo der Ingenieur Ludwig Bölkow ein Entwicklungszentrum für Raketen- und Raumfahrttechnik aufgebaut hatte, wurde Anfang der 60er Jahre der erste deutsche Satellit als Modell vorgestellt. Er hieß „625 A“ und sollte in zwei bis drei Jahren mit einer Trägerrakete auf eine Umlaufbahn von 230 bis 280 Kilometern geschossen werden. Der künstliche Himmelskörper war für eine Nutzlast von 20 Kilo angelegt. Der „Außenminister“ der amerikanischen Nasa war auch schon zu Besuch gewesen. Tatsächlich startete der erste deutsche Forschungssatellit – acht Staaten schafften es früher - im November 1970. Er hieß „Azur“ und beförderte 71 Kilo Instrumente zur Untersuchung der kosmischen Strahlung. Nach fünf Wochen brach der Kontakt aus unbekannten Gründen ab. Zehn Jahre nach dem Start verglühte Bölkows Pionier beim Eintritt in die Erdatmosphäre. Die Mission wurde trotzdem als großer Erfolg gefeiert.

Nach jahrelangen Diskussionen und Untersuchungen empfahl die von Wirtschaftsministerium und Stadt eingesetzte Kommission am 17. Dezember 1964, genau vier Jahre nach der schwersten deutschen Flugzeugkatastrophe, Riem aufzugeben und im Umkreis von höchstens 45 Minuten vom Münchner Stadtzentrum einen neuen Großflughafen zu planen. Von den 20 geprüften Standorten blieben drei mit den geringsten Nachteilen: Hörlkofen im Osten, Sulzemoos im Norden und der Hofoldinger Forst im Süden. Geschätzte Kosten: 550 bis 650 Millionen Mark. Fertigstellung der ersten Startbahn: 1970. Nach erbitterten Auseinandersetzungen entschied sich der Ministerrat im August 1969 aber für einen anderen Standort: das Erdinger Moos.

Nach weiteren Protestaktionen und Gerichtsverhandlungen, nach Straßensperren und Steuerstreiks, begannen im November 1980 die eigentlichen Baumaßnahmen. Nach einer weiteren Warteschleife, nach einem gerichtlichen Baustopp und einem Sprengstoffanschlag, nach Beginn des Widerstands auch in Wackersdorf und einem neuerlichen Unglück auf dem alten Flughafen Riem und nach 30jähriger Planungs- und Bauzeit startete am 11. Mai 1992 als erstes Flugzeug ein Prototyp des Airbus A 340 auf dem „Flughafen Franz Josef Strauß“, von dessen Nachfolger Max Streibl als „modernster Airport Europas“ vor 2500 Ehrengästen bejubelt. Bis dahin hatte das „Monster im Moos“ rund sieben Milliarden Euro verschlungen, das zweite Terminal kostete nochmal 1,1 Milliarden, weitere großen „Anbauten“ befinden sich in neuer Planung.

Das zu diesem Thema erschienene Buch „Babylon in Bayern. Wie aus einem Agrarland der modernste Staat Europas werden sollte“ von Karl Stankiewitz dokumentiert auf 216 Seiten mit 76 Fotos zahlreiche problembeladene Großprojekte; kommentiert von Christian Ude, Hubert Weinzierl und Jürgen Trittin. Restexemplare sind zum stark herabgesetzten Preis von 5,95 Euro zzgl. 1,90 Euro Versandkosten erhältlich über edition.buntehunde@t-online.de, Telefon 0941/5674510.

Anmerkung 1 (4.7.14, 12 Uhr): Diese Stelle wird gestrichen und auch inhaltlich zurückgezogen. Hier wurden versehentlich die "kalte" und die "heiße" Fusion durcheinandergebracht. Die Redaktion hat hierzu folgender Hinweis des Garchinger Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP) erreicht:

"Die Aussagen zur Fusionsforschung (dem Thema des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik) im 3. Abschnitt sind unzutreffend und ich möchte hiermit um Korrektur bitten. Der Autor bezieht sich auf die (...) Landtagsanfrage und leitet daraus eine vermeintlich ablehnende Haltung der bayerischen Wirtschaftsministerin zur Fusionsforschung ab. Wie Sie aber aus dem (...) Text leicht erkennen werden, übersieht Herr Stankiewitz, dass sich die Anfrage und die Antwort des Bayerischen Wirtschaftsministeriums auf "kalte Fusion" bezieht (d.h. auf Versuche, Fusionsreaktionen bei Zimmertemperatur zu erreichen). Diese Arbeiten haben mit der in Garching betriebenen Fusionsforschung, die vom Bayerischen Wirtschaftsministerium finanziell gefördert wird, jedoch nichts zu tun. Die skeptische Haltung des Ministeriums zur kalten Fusion wird von den Wissenschaftlern unseres Instituts geteilt (siehe http://www.ipp.mpg.de/2545522/faq10). Im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching bei München und am internationalen Testreaktor ITER in Südfrankreich (die beide im Artikel erwähnt werden) wird nicht die "kalte" sondern die "heiße" Fusion erforscht: Mit Plasmen einer Temperatur von über 100 Millionen Grad will man ein Kraftwerk entwickeln, das Energie auf die Weise erzeugt, wie es in der Sonne geschieht. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, bei dem man sich jedoch im Laufe der Forschung kontinuierlich und Schritt für Schritt an das Ziel herangearbeitet hat. Mit dem in weltweiter Kooperation organisierten ITER, der zurzeit aufgebaut wird, steht die Fusionsforschung  vor der Demonstration eines Energie liefernden Plasmas. Der Testreaktor soll beweisen, dass per Fusion mehr Energie gewonnen werden kann, als man zuvor zum Auslösen der Reaktionen aufwenden muss. 500 Megawatt Fusionsenergie soll ITER erzeugen."

Der Kulturvollzug bedankt sich für den Hinweis und bedauert die Verwechslung.

Veröffentlicht am: 01.05.2014

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