Eine Kurzgeschichte von Herbert W. Franke

Gespeichert und gelöscht

von kulturvollzug

Es gibt Ereignisse, die immer wieder eintreten, einmal da und einmal dort, unausweichlich, nicht vorhersehbar, zufällig. Doch derjenige, in dessen Leben sie eingreifen, wird sie nicht aus statistischen Aspekten heraus sehen, sondern auf sein eigenes Leben bezogen: etwas ganz Persönliches, eben das eigene Schicksal.

Von Herbert W. Franke

"Türme" Abb.: Archiv HWF

Sie waren beide geschickte Jäger und Verfolger, schnell und wendig, mit den Besonderheiten der Landschaft vertraut. Noch mehr aber zeichnete sie ein wacher Verstand aus, etwas, was sie befähigte, jede Situation blitzschnell zu analysieren und Schlüsse daraus zu ziehen. Das war auch der Grund dafür, daß man sie der ersten Kategorie zugeordnet hatte.

Wenn sie gerade nicht aufgerufen waren, dann saßen sie oft beide friedlich nebeneinander, in einer Ecke des Areals, neben ihren Fahrzeugen. Von hier aus hatten sie einen guten Überblick über das labyrinthartig angelegte Gelände, dessen Wege ständig wechselten. Es war voll von Hindernissen und Fallen: tiefblaue Wasserstellen, gelbe Elektrozäune, schwarze Schachtöffnungen, orangefarbene Flammensperren... Und über allem lag der rosarote Himmel, der sich so rasch verdunkeln konnte, um seine Blitze herunterzuschleudern.

Wenn die beiden, der Jäger und der Verfolger, gerade nichts zu tun hatten, so blieben sie doch nicht untätig. Man kann das Denken nicht ausschalten, die Intelligenz bleibt aktiv, auch wenn es nicht gerade Jagdzeit ist. Sie sucht sich ihr Ziel in den vielfältigen Objekten dieser Welt, in der Landschaft, in den Bauten, in den Personen.

»Man sollte es nicht glauben«, sagte Mick, der ein wenig sprunghaft war, spontane Entschlüsse faßte – und sie oft wieder verwarf. »In Wirklichkeit soll unsere Welt aus kleinsten Teilchen bestehen, aus Quanten, Atomen, Pixeln. Wir merken nur deshalb nichts davon, weil wir die Muster, die sie bilden, als etwas Zusammenhängendes, Einheitliches sehen.«

Gonza hatte schon davon gehört, aber es fiel ihm schwer, daran zu glauben. »Alles Theorie«, antwortete er. »Keine Bedeutung für das wirkliche Leben. Selbst wenn es so sein sollte – die Dinge, mit denen wir zu tun haben, agieren und reagieren als Ganzes, und so, wie man etwas sieht und auffaßt, ist es auch.

«Mick ging nicht darauf ein. Wir selbst auch...«, sagte er, »ich, du, die andern – aus einigen wenigen Arten von Einheiten, die man wieder auseinandernehmen und anders zusammensetzen kann.«

»Und wer setzt sie zusammen?« fragte Gonza.

Mick überlegte. Diese Frage hatte er sich selbst schon gestellt, und er war zu einem überraschenden Ergebnis gekommen. Wesen wie sie selbst konnten es nicht sein – sie hatten keine Möglichkeit, jene Atome zu beeinflussen. Ein anderes Wesen also – ein viel mächtigeres, viel klügeres Wesen... Vielleicht hatte es diese Welt gemacht, vielleicht lenkte es jene Ereignisse, die die Arbeit so schwierig machten, die Blitzschläge, die Vulkanausbrüche, die sich jäh öffnenden Erdspalten... Alles andere war gut zu begreifen – das Verhalten der Gegner, ihre Winkelzüge, ihre Einschlußmanöver, die Art, wie sie sich versteckten und wie sie ihre Waffen gebrauchten. Diese Ereignisse aber gehorchten keinem festen Plan, zumindest war keiner zu erkennen, sosehr sich Mick auch schon darum bemüht hatte. Vielleicht gab es diesen Plan aber doch, und er war nur viel zu kompliziert, als daß man ihn verstehen konnte...

»Es hat keinen Sinn«, sagte Gonza, »über Dinge nachzugrübeln, die sich der Beobachtung entziehen. Du solltest dich lieber auf die nächste Jagd vorbereiten – es wird nicht mehr lange dauern!«

Mick kümmerte sich nicht um seinen Rat. »Laß mich!« antwortete er. »Ich finde es aufregend, und ich will darüber nachdenken. Warum denke ich überhaupt? Warum bin ich so, wie ich bin? Welches Ziel habe ich, welche Aufgabe?«

»...die Aufgabe, die Beute zu jagen!« sagte Gonza, doch es sollte eher ein Scherz sein, denn auch er konnte nicht daran glauben, daß das ihre einzige Aufgabe sein sollte.»

Vielleicht sind auch die Atome, aus denen wir bestehen, nichts Wirkliches. Worauf es ankommt, sind nur die Gestalten, die man daraus aufbaut, die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen. Vielleicht ist alles nur Mathematik, ein abstraktes System aus Zahlen und Regeln. Irgendwo habe ich es gehört: daß jeder von uns, mit allen seinen Eigenschaften, nichts anderes als ein Verhaltensmuster ist, eine Art Beschreibung, ein Programm... Und daß unser Leben aus ist, wenn dieses Programm gelöscht wird.

«Gonza stand auf, blickte aufmerksam in die Tiefe des Ganges – er hatte ein leises Geräusch gehört, eine Art Knacken, und jetzt ertönte auch schon der helle Pfeifton, der die nächste Jagd ankündigte.

Auch Mick hatte sich erhoben, von einer Sekunde auf die andere waren seine Zweifel verschwunden. Er war aufmerksam, konzentriert, bereit zu handeln.

Eine Minute später hatten sich die beiden getrennt, liefen durch das Labyrinth, auf der Suche nach den eingedrungenen Gegnern, auf der Hut vor jenen nicht vorhersehbaren Ereignissen, die immer neue Varianten ins Spiel brachten...

Sie wußten nicht, daß es ihre letzte Jagd war, denn der junge Mann, der das Spiel programmiert hatte, fand es allmählich langweilig und hatte beschlossen, das Programm zu löschen. Er würde ein neues Spiel entwerfen – Wesen mit einem komplexeren Verhalten, mit höherer Intelligenz. Vielleicht würden auch diese über ihre Welt nachdenken – mit genauso wenig Chancen, sie zu verstehen, wie jene vor ihnen und nach ihnen.

Der junge Mann aber arbeitete bereits an einem neuen Entwurf, und es interessierte ihn wenig, ob seine Welt aus Atomen bestand oder nicht. Und er dachte auch nicht an die Frage, ob es irgendwo ein Programm geben könnte, das ihn selbst beschrieb und das irgend jemand löschen könnte.

Dieser Text stammt ursprünglich aus dem Band "Die Zukunftsmaschine" von Herbert W. Franke und ist hier Teil einer kleinen Reihe mit diesem Autor. Die Geschichte kann bei der mediacomeurope GmbH (mce) über Art Meets Science bezogen werden.

Einige Erläuterungen zu Autor und Anlass finden Sie bei der ersten Folge. Weitere Informationen zu Herbert W. Franke auf seiner eigenen Seite sowie bei Art Meets Science.

Veröffentlicht am: 23.02.2013

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