Zum Abschluss von "Radikal Jung"

"Felix Krull" - Publikumssieg für einen charmanten Hochstapler

von Jan Stöpel

Erdige Typen: Nils Kahnwald, Benedikt   Greiner, Oliver Kraushaar und Viktor Tremmel im Frankfurter "Gatsby". Foto: Birgit Hupfeld

Acht Tage "Radikal Jung" am Münchner Volkstheater,  acht Tage lang Appetithappen fürs Theater in Gestalt feiner Produktionen Junger Regisseure aus Deutschland und dem europäischen Ausland. Am Ende siegte in der Publikumsgunst ein alter Bekannter: Nach 2010 holte Bastian Krafft mit seinem "Felix Krull" zum zweiten Mal den Preis der Zuschauer. Mit hauchdünnem Vorsprung auf den Dresdner Beitrag: Jan Gehlers "Tschick" begeisterte mit einfachen, aber präzis und phantasievoll eingesetzten Mitteln. An ihn wurde erstmals ein zweiter Preis überreicht. Und er wird am Volkstheater ein Stück inszenieren. Eine weitere gute Nachricht: Auch nach dem Ausstieg von E.on soll es 2013 wieder ein "Radikal Jung" geben.Es war der Hochzeitsmarsch von Wagner, den die Schauspieler pfiffen, nicht wie behauptet der von Mendelssohn. Und es war irgendwie auch nicht der „Große Gatsby“ von Scott Fitzgerald, den das Schauspiel Frankfurt eigentlich angekündigt hatte: Zum Abschluss des Festivals „Radikal Jung“ in München gab es eine witzige, mitunter leider auch überwitzige Fassung des großen Romans zu sehen, mit einem vervierfachten Erzähler Nick Harraway, der das Figurentableau um den großen, generösen Gatsby herum voller Verachtung zum Zerrbild überzeichnete. Harraway schildert die Personen nicht, er äfft sie nach. Daisy wird zu einer dummen, schrillen, eingebildeten Heppe. Man kann sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein so wahrhaftiger Romantiker und begnadeter Selbstschöpfer wie Jay Gatsby auf so ein dummes Frauenzimmer reinfallen soll. Mehr noch: Warum er sich anstelle einer so schlechten Autofahrern als Opfer für den rachsüchtigen Mechaniker Wilson anbieten soll.

Die Inszenierung von Christopher Rüping war sozusagen ein Roman-Klon, der Fitzgeralds Vorlage nicht unbedingt gerecht wurde, ein Doppelgänger mit äußerlicher Ähnlichkeit, nicht aber mit dem Innenleben dieser zarten und glamourösen Erzählung. Ein Stück im Gewand des Romans, was andererseits ganz gut zum Motto des Festivals der jungen Regisseure passte: „Occupy Identity“, besetze oder besser schnitz' dir deine Identität, hatte das Volkstheater die achte Auflage überschrieben. Und acht Produktionen aus Deutschland, Ungarn und Holland eingeladen, die auch um die Frage kreisten – wer bin ich, wer will ich sein, was unterscheidet uns? Eine geradezu philosophische Aufgabe, die in den geglücktesten Produktionen dieses Jahrgangs mit entzückender Leichtigkeit angegangen wurde. In Bastian Kraffts Thomas-Mann-Adaption „Felix Krull“ etwa; ein dreifach besetzter Hochstapler Felix Krull, eine multiple Persönlichkeit, deren Persönlichkeitssplitter mit sich selbst im Wettstreit liegen. Ein unterhaltsamer, brillant choreographierter Abend, der Bastian Krafft zum zweiten Mal nach 2010 den Publikumspreis einbrachte. Fast gleichauf mit Kraffts Volkstheater-Inszenierung lag in der Zuschauergunst Jan Gehlers „Tschick“, die Bearbeitung des Romans von Wolfgang Herrndorf, der von der ungewöhnlichen Freundschaft zweier Jungen erzählt: Kurzweilig, witzig, auf einfachste Mittel und die Phantasie setzend, begeisterte diese Inszenierung des Staatsschauspiels Dresden das Publikum. In Sebastian Wendelin als Andrej Tschichatschow alias „Tschick“ stellte Dresden einen der herausragenden Schauspieler des Festivals.

Wie konstruieren wir Identitäten, was unterscheidet einen Tutsi von einem Hutu, was macht den einen zur „Kakerlake“ und den anderen zum Massenmörder? Milo Raus Theaterprojekt „International Institute of political Murder“ brachte in „Hate Radio“ eine Sendung des Hetz-Senders RTLM auf die Bühne, der den Völkermord in Ruanda anheizte. Ein beklemmender Abend. Weniger beeindruckend, weil etwas konstruiert wirkend und arg gewollt: Ilay den Boers Familien-Projekt „This is my dad“. Kein Generationenkonflikt, sondern ein zunächst leicht und improvisiert wirkendes Spiel um die Frage: Was unterscheidet den niederländischen, protestantischen Vater von seinem Sprössling Ilay, der als Sohn einer Jüdin Jude ist? Wie konnte der Vater so lange die Augen vor dem Antisemitismus in Holland verschließen?

In Moritz Schöneckers „Faust“ für das Theater Jena hingegen scheitert der Held als Gottesstürmer wie als Mensch – auf einer Bühne als Experimentierfeld, deren zunehmendes Chaos einen reizvollen Kontrast zur kunstvollen Sprache Goethes bildete. Ein bühnen- und kulissentechnisches Stückwerk sozusagen, das Goethes komplizierten und von Selbstzweifeln durchsetzten Schaffungsprozess beim "Faust" abbilden wollte. Vor allem Ella Gaiser wusste als Gretchen in diesem Urfaust zu gefallen.. Allerdings waren in München die Möglichkeiten der Inszenierung wegen anderer Bühnenmaße eingeschränkt.

Antú Romero Nunes vom Maxim Gorki-Theater Berlin hatte das Festival mit einer Fassung des Visconti-Films „Rocco und seine Brüder“ gestartet. Wie schon in anderen Produktionen erzählt Nunes mit einfachen und doch verblüffenden Mitteln die Geschichte einer süditalienischen Familie, die im kalten Mailand an ihrer Entfremdung, an der Liebe einer Frau und dem Streit zweier Brüder zerbricht. Bühnenzauber, wenn auch manchmal etwas routiniert wirkend.

Viktor Tremmel und Oliver Kraushaar in "Der große Gatsby". Foto: Birgit Hupfeld

„Radikal Jung“ eröffnete auch einen aufschlussreichen Blick auf Ungarns Gegenwart. In „Korijolanusz“, Csaba Polgárs Inszenierung eines selten gespielten Shakespeare-Dramas, verkommt die Politik zum Schmierentheater. Das Volk ist machtlos gegen „die da oben“ und hat es doch nicht besser verdient. Noch vor Viktor Orbáns Amtsantritt als Premier hatte Polgár das Stück mit der freien HOPPart Company Budapest erabeitet – um dann mitzuerleben, wie die Realität die Farce überholte. „Die Politik hat das Theater gestohlen“, sagt Polgar. Ein verhängnisvoller Wechsel der Identitäten, aber ein echter Höhepunkt des Festivals.

"Radikal Jung", so viel darf man hoffen, wird auch 2013 verschiedene Regiesprachen aus Deutschland und dem Ausland nach München bringen. Intendant Christian Stückl äußert sich jedenfalls zuversichtlich.

Veröffentlicht am: 02.05.2012

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