München 72 (Folge 4 und Schluss)

Startplatz der Stars - Silber für Musik, Theater, Kabarett, Literatur und Film

von kulturvollzug

Glamour war angesagt zu den Spielen, nicht nur in der Staatsoper (Foto: Achim Manthey)

Die Weltpremiere der Oper „Sim Tjong“ von dem Koreaner Isang Yung im Nationaltheater führte am ersten Abend im Olympia-Monat August  einen Reigen von über 50 Opern- und Ballettaufführungen an. Es gastierte die Mailänder Scala und im Festprogramm fehlte kaum eine der ganz großen Opern. Stockhausen kreierte ein Werk namens „Stimmung“, Yehudi Menuhin und Ravi Shankar spielten gemeinsam indische Ragas.

Das Jahr 1972 war auch für die Musik der Welt, für Theater, Kabarett und Film in München ein ereignisreiches Jahr. Das Residenztheater brachte die großen Klassiker auf die Bühne (Shakespeare, Goethe, Schiller, Tschechow, Schnitzler), das Schauspielhaus einige Größen der Moderne (Wedekind, Brecht, Dürrenmatt, Hochhuth).

Werner Finck veröffentlichte seine Autobiographie („Alter Narr, was nun?“), Erich Kästner seine Dissertation von 1925 („Friedrich der Große und die deutsche Literatur“). Friedrich Hollaender bekam den Schwabinger Kunstpreis für Musik. Die Münchner Lach- und Schießgesellschaft gewann mit ihrem zehnten Programm („Der Abfall Bayerns“) noch einmal ihren alten Glanz – und löst sich auf, weil ihr die SPD-FDP-Regierung nicht mehr genug Zündstoff zu bieten schien. Deren Nudelbühne betrat nun das Duo Jörg Hube und Helmut Ruge. Konstantin Wecker startete mit einer ersten CD („Sadopoetische Gesänge“) seine Karriere.

Letztlich ist es bis heute ein Gesamtkunstwerk (Foto: Bayer. Landesamt für Denkmalschutz)

Vier Studiokinos spielten im Rahmen Internationaler Filmkunstwochen die zweihundert „besten Filme der Welt“, beginnend mit dem guten alten „Blauen Engel“. Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders, Jürgen Syberberg, Martin Sperr und Peer Raben drehten in jenem Jahr gewichtige Spielfilme. Und auch im direkten Zusammenhang mit Olympia gingen international bekannte Regisseure ans Werk:

Acht weltbekannte Regisseure arbeiteten, zum ersten Mal in der Filmgeschichte, gemeinsam an einem Projekt, und zum ersten Mal sollte ein Olympiafilm nicht nur Dokumentation sein, sondern eine „neue Kunstform“ schaffen. Das berichtete der verantwortliche Produzent David L. Wolper aus Los Angeles, bekannt bereits durch seine dokumentarischen Spielfilme „Die Brücke von Remagen“ und „Die Teufelsbrigade“. Nur an die Grundlinie der olympischen Idee gebunden, sollten die Regisseure ihre eigenen Vorstellungen für diesen offiziellen Olympiafilm verwirklichen.

So filmte der Amerikaner Arthur Penn den wegen Totschlags in Gefängnis sitzenden schwarzen Boxer Bobby Lee Hunter beim täglichen Training mit seinem weißen Wärter und Sparringpartner im amerikanischen Knast und hoffte, dass der Fliegengewichtler noch nach München reisen darf. Trotz Bedenken der Ober-Olympier Brundage und Daume wurde der Sträfling („ein Idol der Jugend“) tatsächlich noch ins USA-Team aufgenommen; er unterlag aber in der Endrunde seinem Landsmann Tim Dement.

Der durch anspruchsvolle Shows bekannt gewordene deutsche Regisseur Michael Pfleghar konzentrierte sich auf, Hostessen, Sportlerinnen und hübsche Mädchen unter den Besuchern. Kon Ichikawa faszinierte die Vorstellung, dass ein Mann drei Jahre lang hart trainiert – und in zehn Sekunden ist alles vorbei; der Japaner nahm den 100-Meter-Endlauf mit 35 Kameras auf und dehnte seinen Filmbeitrag auf zehn Minuten aus. Der ganze Film hat schließlich eine Laufzeit von 110 Minuten

Als weitere Regisseure waren beteiligt: Milos Forman (Tschechoslowakei), Claude Lalouch (Frankreich), Juri Ozerov (Sowjetunion), John Schlesisnger (Großbritannien) und Mai Zetterling (Schweden). Vierzig bewährte Kamerateams setzt die Produktionsfirma Wolper Pictures ein. Mehr als hundert Mitarbeiter umfasste der Produktionsstab, der sein Hauptquartier in Geiselgasteig hat. Durchgängige Musik verband die acht Episoden. Die Kosten belaufen sich auf 1,5 Millionen Dollar. „Bisher waren zwar alle Olympiafilme finanzielle Katastrophen,“ sagte Wolper, „aber das lag daran, dass es nur Reportagen waren.“

Von diesem Film jedoch versprach man sich einen Reingewinn. „Wenn er erfolgreich wird, setzt er sicher neue Maßstäbe. Wenn nicht, werde ich viel Geld verlieren und nie wieder solche Filme machen,“ sagte Wolper und fügt hoch greifend hinzu: „Auf jeden Fall wird unser Film neben den Bauten das einzige sein, was von den Olympischen Spielen übrig bleiben wird.“ Der Film kam im Herbst 1973 in der Bundesrepublik mit dem Titel „München 1972“ in Kinos und ins Fernsehen, in anderen Ländern lief er unter dem Originaltitel „Vision of Eight“. Er fand stärkere Beachtung als der 1976 am Originalschauplatz des Terroranschlags gedrehte US-Film „21 Stunden in München“, wurde aber 2055 durch Steve Spielbergs „München“ übertrumpft.

Der Kultur-Kater

Nach dem aufwändigen Olympiakulturprogramm drohte der Stadt eine beispiellose Kulturkatastrophe. Im Internationalen Presseclub enthüllte Kulturreferent Herbert Hohenemser im Oktober die „Notsituation“. Sein Etat sollte drastisch gekürzt werden. „Es war unsere Hoffnung, dass manches, was zu den Spielen organisiert war und viel Anklang gefunden hatte, eine ständige Einrichtung werde,“ sagte er. Dies konnte man nun vergessen. Auch für die Verwirklichung der längst fertigen Pläne für ein Kulturzentrums schien kaum mehr Aussicht zu bestehen. Drei Nachfolge-Projekte waren vorgesehen und durchgerechnet:

Die Spielstraße vom Olympiasee sollte jeden Sommer zwei Wochen lang in der Fußgängerzone mit internationalen Gruppen wiederholt werden. Kostenschätzung: 3,5 Millionen DM, bei Beteiligung von Industrie und Rundfunk eine Million. Das Internationale Jazz-Festival sollte alljährlich im Theatron oder der Sporthalle des Olympiaparks stattfinden. (500 000 DM). Das Kinder- und Jugendzentrum sollte erhalten bleiben und vor allem milieugeschädigten Kindern kreative Möglichkeiten bieten. (300 000 DM). Außerdem wollte Hohenemser die „Kunstzone“ auf dem Jakobsplatz, die 1971 als „erste freie Produzentenmesse“ viel Polemik und Pornographie produziert und damit Bürgerschaft und Stadtrat abgeschreckt hatte, nunmehr mit „besserem und seriöseren Künstlern“ und nicht mehr „frei“, sondern mit Jury zur Dauereinrichtung machen. Das würde jedes Mal 300 000 Mark kosten.

Aber während der SPD-Referent zu seiner Überraschung bei der CSU manchen „motorischen Antrieb“ für seine Ideen fand, stieß er in der eigenen Partei, die genau während der Olympiade einen scharfen Kurswechsel nach links vollzogen und den Olympia-Macher Vogel aus dem OB-Amt vertrieben hatte, auf pures Unverständnis. Schlimmer noch: „Ich musste erleben, dass die Eingriffe viel rigoroser waren als früher.“ Nicht nur, dass die olympische Nachfolge-Rechnung durchkreuzt wurde, der Rotstift des Stadtkämmerers strich auch willkürlich in Hohenemsers Haushaltsbuch. Drei von 45 Millionen Mark wurden für entbehrlich gehalten.

Damit schrumpfte der Anteil der Kultur am Gesamthaushalt der „sogenannten Welt- und Kulturstadt“ (Hohenemser) auf die Hälfte zusammen, auf zwei Prozent, so dass München nun nur noch an 18. Stelle der deutschern Städte rangierte, hinter Oberhausen. Münchens Kulturpolitik sei an einem „Scheideweg“ angelangt, meinte der Stadtminister. Vor der SPD-Fraktion erklärte er, dass eine Weiterführung der vor und während der Olympiade eingeleiteten Kulturarbeit nur möglich sei, wenn die Stadt umdenke und auch hier vom „ökonomischen Prinzip“ abrücke. Aber bei den Genossen im Rathaus, war guter Rat teuer.

Sie verwiesen auf die allgemeine Finanzmisere der Städte und die – zum Teil durch Olympia liegen gebliebenen – riesigen Sozialaufgaben. Angesichts dessen wurden manche der eher repräsentativen als massenbildenden Kulturvorhaben als „Luxus“ empfunden. Da die Stadt fünf Millionen Mark allein für die staatliche Oper zuschießen musste, forderte ein ultralinker Stadtrat gar: „Schließt die Theater. Sie erreichen doch immer nur das gleiche Publikum und können zur allgemeinen Bewusstseinsbildung nichts leisten.“

„Nicht mehr tolerieren“ wollte der Sozialdemokrat Hohenemser derlei Ideologie. Es werde sich noch zeigen, erwiderte er kämpferisch, inwieweit auch das, was in Kunstgalerien, Konzertsälen, Stadtbüchereien und Theatern geschehe, sich gesellschaftspolitisch und bewusstseinsbildend auswirken werde. Hohenemser verwies auf die Wahlplattform seiner Partei und das neue Schlagwort „Lebensqualität“, die doch wohl auch Bildung und Kultur beinhaltet.

Karl Stankiewitz

Karl Stankiewitz bringt demnächst im Volk Verlag ein Buch zur Münchner Kunstszene seit 1945 heraus („Die  befreite Muse“), das auch Ereignisse von 1972 beschreibt).

Veröffentlicht am: 29.08.2012

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