Kinokritik Shame

"Es ist kalt"

von Gabriele Müller

Mehr als ein dumm-geiler Pornokonsument: Brandon © 2011 PROKINO Filmverleih GmbH

Was er will, ist Sex, was er braucht, ist Nähe. Nähe droht ihm, als er eines Tages seine Schwester unerwartet und unerhofft in seiner Wohnung antrifft. Ein mutiges Drama von Steve McQueen. Michael Fassbender überzeugt in der Rolle eines Süchtigen.

Immer wieder ruft sie an und spricht auf den Anrufbeantworter, droht schließlich mit dem raschen Ende bedingt durch eine besonders fiese Krebserkrankung – während ihr Bruder Brandon sich in Begleitung des World Wide Web einen runterholt.

Sex ist, was seine Welt im Innersten zusammenhält. Sex hat er oft, mal in Gesellschaft, mal ohne Sparringspartner und überall. Auch in der Arbeit. In einer New Yorker Werbeagentur, wo Männer Karriere machen, deren „Zynismus sich in Respekt verwandelt“.

Und doch ist er längst nicht der dumm-geile Pornokonsument, den man als Zuschauer gerne hätte, um sich in eitler Sicherheit gegen ihn aufstellen zu können. Man kann Brandon (Michael Fassbender) mögen und man darf ihn mögen – und zwar nicht trotz seines Sexwahnsinns, auch nicht wegen seiner Abgründe, sondern weil dieser durchaus höfliche, ruhige Mann Frauen nicht belügt, weil er reflektiert, aber vor allem, weil er sich bemüht, weil er kämpft und Veränderung sucht.

Läuft sich weg: Brandon (Michael Fassbender) © 2011 PROKINO Filmverleih GmbH

 

Was er will, ist Sex, was er braucht, ist Nähe. Nähe droht ihm, als er eines Tages seine Schwester unerwartet und unerhofft in seiner Wohnung antrifft. Sissy (Carey Mulligan), die Schräge, die Auffallende aus LA, wird zur Schönheit der Nacht und vermag ihren zurückhaltenden Bruder bei einem Auftritt in einer Bar mit dem Klassiker „New York, New York“ zu stillen Tränen zu rühren.

Seine Schwester ist ihm eine Last, und sie ist seine große Chance, Mensch zu sein. Und so verzweifelt, wie Brandon sich in seine sexuellen Kamikazetrips stürzt, so verzweifelt schreit Sissy einem Lover „Ich liebe dich“ ins Telefon – immer wieder.

Noch in der gleichen Nacht lässt sie, die Verletzbare, die Berührbare, sich von Brandons verheiratetem Chef im Apartment ihres Bruders abschleppen. Sie hält ihm den Spiegel vor, und jede Sekunde – so scheint es – wird  er wutentbrannt, angewidert in sein Schlafzimmer stürmen und den Mann vom Körper seiner Schwester stoßen. Stattdessen nimmt er seine Joggingklamotten und läuft sich weg, rennt ruhelos durch die Straßen New Yorks.

„Es ist kalt“, sagt sie am nächsten Morgen und legt sich zu ihm ins Bett. Er wirft sie raus. Brandon kann eindringen, er kann masturbieren, aber er kann nicht berühren und er erträgt keine Berührung. Selbst die Umarmung seiner Schwester stößt er weg.

Seine Festplatte sei komplett pornoverseucht, da müsse man schon sehr krank im Hirn sein, sagt der Chef am nächsten Tag zu Brandon, nachdem er in der Nacht zuvor dessen Schwester flachgelegt hat. Natürlich könne das nur der Praktikant gewesen sein, oder?

„Der bumst nicht noch mal mit dir“, sagt Brandon zu Sissy, da sitzen sie wie Kinder nebeneinander auf der Couch, er legt den Arm um sie. Im Fernsehen läuft ein Zeichentrickfilm. Es ist keine einfache Geschwisterbeziehung, und doch ist es Liebe.

Rührt Brandon zu stillen Tränen: Schwester Sissy (Carey Mulligan) © 2011 PROKINO Filmverleih GmbH

 

Michael Fassbender als Brandon lässt seiner Figur den Vorrang, verschwindet in seiner Rolle. Diese brillante Schauspielleistung ist nicht zuletzt der Inszenierung seines Regisseurs zu verdanken. Carey Mulligan als die Schwester hat zwar den „kleineren“ Part, aber den füllt sie nicht weniger überzeugend aus.

Nacktheit gehört in „Shame“ zur Ausstattung. Sie stört nicht, aber sie verführt auch nicht. Bis zu dem Zeitpunkt, als Brandon seine Schwester unter der Dusche antrifft und sie ihn beim Onanieren erwischt – da irritiert sie, die Nacktheit, die eigentlich zu einem Liebespaar gehört, und wird zum Tabu in einer Geschichte, in der es keine Tabus mehr zu geben scheint.

„Es ist kalt“ und „Zynismus verwandelt sich in Respekt“ – zwei entscheidende Sätze in dem neuen Film des irischen Regisseurs Steve McQueen, der seine Figuren in ihrer Zerrissenheit achtet und sie niemals verrät. Und alle Möglichkeiten nutzt, die das Medium Film bietet. Jede Figur, jede Sequenz, jede Szene hat ihren Spannungsbogen, ihre Nuancen, ihre Überraschungen. Erwartungen des Zuschauers werden nicht erfüllt. Dem hektischen Gebaren seines Protagonisten, der Wucht der Bilder setzt er die Schlichtheit von Bachs Goldberg-Variationen entgegen und führt sein fast schon religiös anmutendes Konzept von Scham, Schuld, Reue, Hölle, Vergebung, Erlösung zu einem klugen Ende.

Dieser Film ist schmerzhaft gut. Wenn man sich auf ihn einlässt, ist er eine Bereicherung.

Seit 1. März im Kino. In München u.a im Arri, Atelier, Monopol am Nordbad, Leopold und Museum-Lichtspiele.

Veröffentlicht am: 26.03.2012

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Christine schwaiger
23.05.2012 21:45 Uhr

Super geschriebene Kritik, bringt den wirklich hervorragenden Film auf den Punkt.