Roger Ballen reist durchs Ich

von kulturvollzug

Abgründiges Foto-Theater: "Michael and Gerrie", 1995. Foto: Roger Ballen

Verstörende Bilder, starke Bilder: Das Münchner Stadtmuseum richtet dem amerikanisch-südafrikanischen Fotografen Roger Ballen eine Ausstellung aus, die zu den beeindruckendsten Foto-Schauen der vergangenen Jahre gehört. 

Die Gesichter sind maskenhaft starr. Die Ohren stehen weit ab, überm viel zu stämmigen Hals flieht das Kinn, von den wulstigen Lippen tropfen Speichelfäden. „Dresie and Casie, Twins, Western Transvaal“ lautet nüchtern der Titel des Doppelport-raits, das sich wie ein Alptraum ins Bewusstseins des Betrachters frisst.

Die 1993 entstandene Fotografie erschreckt, stellt bloß, lässt einen nicht mehr los. Auch wegen der Frage: Darf man so etwas zeigen? Debile Menschen so vorführen? Und darf man so etwas anschauen? Bei so viel unbewusster Selbstentblößung? Ballen publizierte 1986 den Bildband „Dorps“ (Africaans für "Dorf") und 1994 „Platteland“ ("Pampa").

Beide Bände provozierten. In Südafrika sorgten sie sogar für handfesten Ärger. Ballen erhielt Morddrohungen, wurde aus der südafrikanischen Künstlervereinigung geworfen.

Weißes Elend: "Dresie und Casie, Zwillinge" (1993) wurde Roger Ballens bekanntestes Bild. Foto: Roger Ballen

Die Bilder erregten Anstoß, weil sie – in Stil mitunter  an Kolonialfotos von Negerstämmen erinnernd - die Schattenseite des Apartheid-Regimes vorführten: die weißen Randständigen. Durch generationenlange Inzucht, Gewalt und Verwahrlosung verbogen und beschädigt, in ihren dörflichen Gemeinschaften jedoch abgeschirmt, bevölkern sie Roger Ballens Bilder den Insassen einer psychatrischen Abteilung gleich. Nichts ist hier heil, sogar hinter dem  Lachen eines Kindes gähnt ein Abgrund. Nochmals also die Frage: Darf man Menschen so abbilden? Man spricht ohnehin unbedacht von „White Trash“, „weißem Müll“. Die Fotoserien zeigen nichts anderes und  entlarvenunseren Sprachgebrauch.

Roger Ballen, im Staate New York als Sohn einer Fotografin geboren, brach nach dem frühen Tod seiner Mutter zu einer Welt-reise auf, die Kamera im Gepäck. Er fotografiert Menschen auf der Straße, lichtet scheinbar zufällige Begegnungen ab, sichtlich geschult an Henri Cartier-Bresson und dessen Verständnis vom entscheidenden Augenblick. In den Bildern seines ersten Bildbandes „Boyhood“ reist Ballen in seine Kindheit zurück: „Durch meine Erinnerungen, nicht so weit von denen der Jungs entfernt, die ich da gerade fotografierte, fühlte ich mich wie neugeboren.“ Aber auch da ge-sellt sich der Unschuld und Spielfreude schon kindliche Grausamkeit hinzu. Und bald weitet Ballen den Blick der „Street Photography“, indem er Schatten, Strukturen, Arme, Beine als Elemente einer zunehmenden Abstraktion zusammensetzt. 

Pose für den Fotografen: "Letting go", Ceylon, 1976.       Foto: Roger Ballen

Die Ausstellung im Stadtmuseum schlägt einen Bogen über vier Jahrzehnte fotografischen Schaffens, die Ballens enorme Vielseitigkeit demonstrieren. Bis hin zum Verschwimmen von Foto mit grafischen Elementen, die an die Art Brut von Jean Dubuffet erinnern. 

Surreale Kompositionen, Menschen wie in einer Theaterinszenierung, Groteske Szenen, verrätselte (Alp-) Traumszenen, die Zusammenkunft des Unvereinbaren: In all diesen Aufnahmen zeigt der ehemalige Psychologie-Student Ballen stets auch sein Innenleben. Die Ausstellung dokumentiert somit auch eine lange Seelenreise. Ein Urlaubstrip war das  jedenfalls nicht.                                                                                                                            

Jan Stöpel

Roger Ballen. Fotografien 1969 bis 2009. Münchner Stadtmuseum, bis 27. Februar 2011.

Außerdem erscheint im Kerber Verlag der Katalog zur Ausstellung: "Roger Ballen, Fotografien 1969-2009"

Veröffentlicht am: 16.11.2010

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