Helene Hegemann inszeniert "Lyrics" auf dem Spielart: Nonkonform ist die Norm

von kulturvollzug

Helene Hegemann und Kathrin Krottenthaler machen Theater zur anarchistischen Anstalt, Foto: Veranstalter

Ein Schwarz-weiß-Film läuft auf dem weißen Vorhang, vor der Bühne. Eine junge Frau sitzt auf ihrem Bett, hört Musik und hat das Gesicht in die Hände vergraben. Dann öffnet sich der Vorhang und der Film läuft auf einer Leinwand am hinteren Ende der Bühne weiter. Auf der Bühne, die gleiche Szene: dieselbe Frau, dieselbe Pose. Auftrakt eines Theaterstücks im i-camp mit doppeltem Boden, Geheimgängen und Sackgassen.

Die junge Frau spielt eine Filmszene, der Regisseur ist nicht zufrieden, betritt die Bühne und beginnt mit seiner Darstellerin zu diskutieren. Sie schreit viel, man möchte ihr sagen, dass ihr Spiel nicht durch Lautstärke an Ausdruck und Eindringlichkeit gewinnt. Sie stürmt von der Bühne, kommt zurück, gestikuliert. Noch bevor der Zuschauer die Szenerie einzuordnen beginnt, ruf Helene Hegemann "Stopp! Stopp!" und tritt aus der ersten Zuschauerreihe heraus auf die Bühne. Sie ist die Theaterregisseurin und ihr gefällt die Szene so nicht. Die dritte Erzählebene ist eröffnet. Das scheint das Konzept des rasanten Stücks von Helene Hegemann und Kathrin Krottenthaler zu sein: Noch bevor das Publikum sich in Sicherheit wiegt, das Gefühl hat, jetzt langsam nachvollziehen zu können, was da passiert, wird schnell der nächste dramaturgische Haken geschlagen und eine völlig neue Spielszene dargestellt.

Überhaupt ist "Lyrics" viel mehr Collage als inhaltlich zusammenhängendes Stück. Siebziger-Jahre-Klamotten treffen auf Youtube-Videos, Hip Hop auf Elektro, psychedelische Lichteffekte auf Schillers Glocke, Madonna auf Muffins. Film in Film in Film, Geschichte in Geschichte in Geschichte. So reproduziert sich Metaebene aus Metaebene und am Ende entsteht eine Mash-up-Ästhetik, die laut ist, rasant, bunt und schrill – aber oft in Sachgassen endet.

"Lyrics" rebelliert gegen die absurden Mechanismen des Kulturbetriebs, Foto: Veranstalter

Das Stück entstand im Rahmen von Connect Connect, dem Mentoren-Projekt des Spielart Festivals zur Künstlerförderung im Theaterbereich. Der Autor und Regisseur René Pollesch suchte sich dafür Hegemann und Krottenthaler für ihre erste Theaterzusammenarbeit aus. Kamerafrau und Cutterin Kathrin Krottenthaler arbeitete von 2002 bis 2010 im Team von Christoph Schlingensief. Sie ist verantwortlich für die Videos und Lichteffekte bei "Lyrics". Helene Hegemann wurde vor allem bekannt durch ihren Debüt-Roman "Axolotl Roadkill". Der wurde zunächst von der Kritik hoch gelobt, um dann nach Plagiatsvorwürfen in den Boden gestampft zu werden.

Hegemann wuchs bei ihrem Vater Carl Hegemann auf, einem bekannten Dramaturgen an der Berliner Volksbühne. Man sieht es regelrecht vor sich, wie die kleine Helene in einem Alter, in den andere Bauklötze stapeln, mit Theaterkuliissen spielte, umgeben von rauchenden Künstlern, deren Reflexionen und Diskussionen sie mit Hochkultur fütterten.

Alles in "Lyrics" – von Hegemann geschrieben – erzählt irgendwie von der Rebellion gegen diese Kunst- und (Pop) Kulturszene: Der "Hass gegen alles, was mit dem Ablaufen vorgefertigter Erfahrungen zu tun hat", sorgt für totale Anarchie auf der Bühne. Die geht sogar so weit, dass man die Schauspieler nicht nur inhaltlich, sondern auch akustisch nicht versteht, weil sie undeutlich sprechen, weil die Musik zu laut ist oder weil sie sich einfach gleichzeitig, gegeneinander ansprechen. Konsens ist Nonsens und Dekonstruktion die neue Tradition. Auf der Bühne stehen enge Freunde von Hegemann, ihre Figur "Twopence" ist angelehnt an eine Figur aus einem Stück ihres Mentors René Pollesch; insgesamt wird man das Gefühl nicht los, dass das Stück gespickt ist von Insidern, die man nur versteht, wenn man die "stalinistische Volksbühnen-Sozialisation" erfahren hat, wie Helene Hegemann es von sich selbst sagt.

Es geht nicht um das Gut-Finden, nicht einmal um das Verstehen an diesem Abend. Ins Absurde gesteigerte Selbstreflexion, wie es zum Beispiel im Programmheft zu lesen ist ("Wie es ist, kein bisschen schauspielern zu können und es trotzdem zu tun"), schützt vor jeder Art von Kritik, denn die wird ja so vorab schon ausgehebelt. Und losgelöst von Kritik gibt es dann auch kein Scheitern mehr. Nur Kunst, so wie sie eben gerade kommt. Dann doch ziemlich clever eigentlich… Aber selbst das wäre den Künstlern höchstwahrscheinlich schon wieder zu viel reininterpretiert.

Eveline Kubitz

 

Veröffentlicht am: 26.11.2011

Andere Artikel aus der Kategorie
Jonas
30.11.2011 14:43 Uhr

Man sollte noch hinzufügen, dass Carl Hegemann auch der Dramaturg von Schlingensief bei vielen Projekten war.

Eine kleine Korrektur muss gemacht werden: Helene Hegemann ist bei ihrer Mutter aufgewachsen, bis diese starb, als Helene 13 war.