Für Goethe "eine neue Welt" - Wie der Fremdenverkehr das Alpenvorland "fashionable" machte

von kulturvollzug

Diese Anblicke zogen die Menschen seit jeher an. Chiemsee bei Hittenkirchen (Foto: Achim Manthey)

"Zum Kotzen schön", nannte der Schauspieler Ottfried Fischer das bayerische Oberland einmal. Das fanden andere schon viel früher auch. Seit dem 18. Jahrhundert nahm der Fremdenverkehr im bayerischen Oberland eine rasante Entwicklung, die auch viel mit Verkehrs- und Wirtschaftpolitik zu tun hat.

Beinahe wäre München ein Heilbad geworden. Nachdem seit 1782 schon vom Wundarzt Xaver Gumppert in einer Badeanstalt an der Müllerstraße außer Wannenbädern auch Milch-, Schwefel-, Kräuter- und Mineralbäder zubereitet wurden, entstand um 1807 im Brunnthal nahe dem Dörfchen Bogenhausen eine Naturheilanstalt, zu der sogar betuchte Kurgäste aus Russland, England und Übersee reisten. Die Kuranstalt "Bad Brunnthal" wurde 1914 abgebrochen, bestand aber als Kneippkuranstalt noch bis zum Zweiten Weltkrieg.

Das Heil von Leib und Seele suchend, waren viele Menschen schon früh nördlich der Alpen unterwegs. Daneben waren der Handel, das Vergnügen und die Entdeckungslust wohl die wichtigsten Motive der ersten Touristen. Kirchen und Kapellen, mit Gnadenbildern und Reliquien reich ausgestattet, wurden der Wallfahrt gewidmet. Andachten, geistliches Spiel, Rosenkranzgebete und Prozessionen brachten im 18. Jahrhundert viel Geld und genüssliches Leben in Dörfer, Märkte und Städte Oberbayerns. Das führte in der Residenzstadt München zu einer offiziellen Klage über die "Wallfahrerhorden, welche vor der Mariensäule auf den Knien lagen".

Die ersten Sommervögel im Gebirge (Bild: Archiv Karl Stankiewitz)

Mit den ersten Postkutschen kamen die Vorreiter einer neuen Art von Fremdenverkehr ins Hochland: wohlhabende, oft von weither anreisende Bildungsbürger. Schreibend, zeichnend, anonym und im Eiltempo fuhr Goethe von München durch das Isartal nach Mittenwald, wobei er ins Tagebuch schrieb: "Mir ging eine neue Welt auf.". Gelehrte förderten durch präzise Reiseberichte ein Verständnis für Land und Leute. Schriftsteller vertieften noch die Liebe zu alpinen und voralpinen Landschaften. Immer mehr Stadtbürger, die sich die nötige Equipage leisten konnten, brachen nun alljährlich auf zur "Sommerfrische" draußen auf dem flachen oder hügeligen Land, wo ein ungestörtes "zweites Leben" auf kurze Zeit möglich schien.

Unzählige, mehr oder minder namhafte Maler machten die Schönheit des Hochlandes bis in die verstecktesten Bergkessel hinein durch ihre Bilder zum begehrten Reiseziel. Malerkolonien auf Frauenchiemsee, an Hintersee, Staffelsee, Ammersee und anderswo wurden Anziehungspunkte für weitere Künstler und Lebenskünstler. In einzelnen Orten bildeten sich Theatergruppen, einige gastierten auch außerhalb Bayerns und warben so für ihre engere Heimat. Jodlergruppen wurden geradezu ein Exportschlager.

Nicht zuletzt war es ein leibhaftiger bayerischer König, der durch seine 1858 binnen fünf Monaten in Etappen unternommene, von seinen Begleitern beschriebene "Fußreise" den ganzen Alpenrand vom Allgäu bis Berchtesgaden, das "Bayerische Gebirg", für die bessere Gesellschaft "fashionable" machte, wie der Alpenpionier Steub amüsiert feststellte. Max II. erklomm sogar den Wendelstein, der alsbald zum Modeberg wurde, auch seine Söhne Ludwig und Otto bestiegen ein paar Berge.

1858 begann Max II. auf seiner legendären "Fußreise", den Tourismus anzukurbeln (Foto: Achim Manthey)

In diesem für die Fremdenverkehrsgeschichte so markanten Jahr 1858 erreichte auch die Eisenbahn zum ersten Mal die bayerischen Berge. Ministerpräsident Ludwig von der Pfordten und "sämtliche Spitzen der höchsten Stände" unternahmen am 5. August in zwölf Waggons, die von zwei Lokomotiven der Firma Maffei gezogen wurden, eine offizielle Probefahrt von München über Rosenheim durch das bayerische Inntal bis nach Kufstein in Tirol. War man auf diesen rund hundert Kilometern mit Pferd und Stellwagen zwei Tage unterwegs, so verkürzte sich jetzt die Reise auf nur noch vier Stunden. Es war ein Ereignis, das Geschichte machte und von einem Reporter in höchsten Tönen beschrieben wurde: "Nach kurzer Rast in Holzkirchen und Rosenheim sausten die mächtigen Dampfer alsbald in die herrlichen Täler hinein, während von den Schlössern und Villen die Landesfarben flaggten und die Cyklopen vom tausendfachen Echo der Böllerschüsse widerdröhnten ... Alle Schönheiten unserer herrlichen Gebirgswelt entfalteten sich vor dem Blicke des Reisenden und die Bahn, einmal ganz vollendet, wird zu den interessantesten der Welt gehören." Vollendet wurde sie ab 1891 durch zweigleisigen Ausbau. Die fünf Zwischenstationen im Inntal sind noch dieselben wie heute.

Um die Zeit, als die Bahnerschließung des Oberlandes begann, öffnete sich auch das Hochgebirge, dessen Wände, Schroffen, Kare und Rissbäche die Menschen über Jahrhunderte eher abgeschreckt hatten. "Der Zugspitz" und "König Watzmann" wurden zu oberbayerischen Wahrzeichen und Werbeträgern. Nachdem 36 Männer im Mai 1869 in München den Deutschen Alpenverein gegründet hatten, gehörte die zünftige, oft auch geführte Bergtour fest zum Freizeitleben des gehobenen Bürgertums. Mit dem Siegeszug der Photographie erreichte die Begeisterung am bayerischen Oberland neue Höhen. Abertausende von Ansichtskarten grüßten und lockten die Daheimgebliebenen. Auch erblühte in den Dörfern das Geschäft mit manch absonderlichen Souvenirs.

Ammersee (Bild: Archiv Karl Stankiewitz)

Es konnte nicht ausbleiben, dass der Massentourismus schon in seiner Frühphase die Strukturen und Mentalitäten der bereisten Zonen stark veränderte. "Der Gebirgler", heißt es in einer alten Chronik von Schliersee, "hängt die Axt an den Nagel, die seine Vorfahren und vielleicht noch er selbst als Holzknechte führten, er verkauft sein Vieh und veräußert seine Wiesen. Stall und Tenne werden umgebaut in Fremdenzimmer, Gaststuben, Cafés, Pensionen". Der Wohlstand wuchs. Aus armen Bergbauern, Holzknechten, Sennern, Kleingütlern wurden Betreiben nagelneuer "Fremdenheime", aus deren Söhnen da und dort Fremdenführer, Skilehrer oder Verkäufer von alpinem Schnickschnack. Die Angst vor "Überfremdung" war nicht mehr fern.

Um die ärgsten Einflüsse des Fremdenverkehrs abzuwehren und die heimischen Traditionen möglichst rein zu erhalten, bildeten sich Trachtenvereine. Sie wirkten auch mit bei der Verschönerung ihrer Dörfer, wofür es aber bald eigene Vereine gab. Aus diesen wiederum gingen die sogenannten Verkehrsvereine hervor, die für eine geregelte Betreuung der Gäste und ihrer Gastgeber sorgen wollten. 1890 wurde in München ein Landesfremdenverkehrsverband gegründet.

Freizeitparks entstanden in der Neuzeit, wie in Felden am Chiemsee (Foto: Achim Manthey)

Den stärksten Impuls für diese moderne "Völkerwanderung" im Voralpenland gab natürlich die immer rasantere Verkehrserschließung. Die Eisenbahn wurde zum flächendeckenden Verteiler, Lokalbahnen erreichten fast jede der bekannteren Sommerfrischen. Die Stellwagen mit Pferden ersetzten Autobusse, die im Linienverkehr auf kühnen Straßen über Pässe und Schluchten kurvten. Ganze Flotten von Fahrgastschiffen kreuzten die Seen im Süden und Südosten Münchens. Zahnradbahnen überwanden steilste und höchste Berge, wo immer mehr Schutzhütten und sogar vornehme Hotels aufmachten. Mit dem Siegeslauf des nordischen "Schneeschuhs" bekam das südliche Bayern neben der Sommerfrische eine zweite Saison. Im November 1905 gründete der aus Leipzig stammende Wilhelm Paulcke in München den Deutschen Skiverband, der sich die "Erschließung von Mittel- und Hochgebirge im Winter" zur Aufgabe machte.

Zum eigentlichen Volkstourismus wurde der Fremdenverkehr auch in Oberbayern erst in den späten 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als das Automobil erschwinglich wurde und die Reichsbahn aus Konkurrenzgründen die Fahrpreise stark ermäßigte und die ersten Ferienzüge einsetzte; sie fuhren zu den als Massenspektakel aufgezogenen Passionsspielen in Oberammergau und bald auch in andere Orte des Oberlandes. Damit war der Fremdenverkehr der Kinderschuhe erwachsen und zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige geworden.

Karl Stankiewitz

Von Karl Stankiewitz ist im Sutton Verlag das Buch "Mir ging eine neue Welt auf. Die Anfänge des Fremdenverkehrs in Oberbayern" erschienen.

Veröffentlicht am: 05.11.2011

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Stefan Seidl - Arbeitskreis TourismusGeschichte
15.12.2011 12:20 Uhr

ein wirklich tolles und intressantes Buch.

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