Zur neu erwachten Zukunft des Staatsballetts

Umarmen wir endlich den Russen!

von Isabel Winklbauer

Gesichter des neuen Staatsballetts (v.li.): Vladimir Shklyarov, Osiel Gouneo, Prisca Zeisel, Ksenia Ryzhkova, Kristina Chekhriy, Ivy Amista. Foto: W. Hösl

Mit „Spartacus“ hat sich das neue Bayerische Staatsballett zum ersten Mal in einem neuen Stück vorgestellt – und dabei die Tränen um die vergangene Ära Ivan Liskas Abend für Abend vergessen lassen. Die offizielle Trauerzeit um die alte Kompanie sollte damit ein Ende finden.

Am Premierenabend von „Spartacus“ verrieten schon die ersten Klänge von Aram Chatchaturians Musik die Botschaft: Das Neue ist da! Es elektrisierte die Zuschauer. Sergej Polunins erotische Ausstrahlung als Crassus nahm gefangen, die perfekte Besetzung Osiel Gouneos als Spartacus faszinierte, das ganze archaische Drama um Freiheit, Frauen und Schwerter ging in Münchens Ballettseelen auf wie Springkraut.

Und das ist gut.

Denn niemand kann ewig trotzen und trauern, und „Spartacus“ ist dank seiner Qualität eine wunderbare Einladung zur Versöhnung. Man darf dieses Stück herausragend finden. Man darf sogar sagen, es war eine gute Idee des neuen Ballettdirektors Igor Zelensky, es nach München zu holen. Nicht nur, weil nicht alles automatisch schlecht ist, was einer russischen Führung entspringt. Es ist auch so, dass das Neue naturgemäß mehr Rechte hat als das Alte. Es ist da und man lebt mit ihm, wogegen das Alte abwesend und weniger wirkmächtig ist. Alles fließt. Und wenn es gut und schön fließt, ist das ein Anlass zum Glücklichsein.

Ivan Liska in "The Passenger". Foto: W. Hösl

München hat in den letzten 18 Jahren dank Ivan Liska wunderbare Dinge erlebt. Dinge, die nie wiederkommen: „Illusionen wie Schwanensee“ von John Neumeier, das durch seine König-Ludwig-Handlung und seine psychologisch motivierte Romantik wie für München geschaffen ist, das international aber keine Bedeutung hat – und daher wohl als vorerst verstorben gelten kann. Das Erbe John Neumeiers, Liskas großem Mentor, wird künftig wohl außerhalb Hamburgs nie wieder so umfangreich gepflegt wie in München. Liska suchte stets das Besondere. Er brachte eine Apsara-Tänzerin auf die Bühne des Nationaltheaters, was ging, weil er zufällig mit dem König von Kambodscha befreundet ist. Dass die Tänzerin auf der riesigen Bühne mit sehr kleinen Gesten arbeitete, störte ihn nicht – Arroganz gegenüber dem Anderen kannte er nicht, auch Simone Sandroni ließ er seine humoresken „Russian Hiphopers“ im „Mädchen und der Messerwerfer“ auf die Bühne bringen. Liska nahm außerdem nicht nur die Restaurierungen von „Le Corsaire“ und „Paquita“ in Angriff, sondern ermöglichte auch regelmäßig die Wiederaufnahme seltener, fast verschütteter Werke wie Nikolai Legats „Die Nacht“ oder Frühkreationen von John Cranko. Um solche Errungenschaften, so eine liebevolle Zuwendung zum Tanz, wie er aus historischen Momenten zu seiner heutigen Form zusammengewachsen ist, darf man sicher aufrichtig trauern.

Igor Zelensky im Probenhaus am Platzl. Foto: W. Hösl

Andererseits ist nicht alles, was Zelensky bringt, so genial wie „Spartacus“. Die Stippvisiten von Sergej Polunin, dem Megastar, der manchmal nicht zu wissen scheint, ob er gerade in London oder in München auf der Bühne steht, stehen im krassen Gegensatz zum persönlichen Verhältnis der Münchner zu „ihren“ Solisten, so wie es in der Vergangenheit war.

Der Führungsstil des Russen erscheint nach Ivan Liskas Dreierspitze mit Wolfgang Oberender und Bettina Wagner-Bergelt reaktionär. Wenn beispielsweise Ivy Amista als Giselle besetzt ist, sich die Rolle aneignet – und Giselle ist für jede Ballerina ein Lebenstraum –, sie diese Rolle dann aber nicht in einer einzigen Vorstellung tanzen darf, ist das gefühllos. Andere Tänzer, wie Tigran Mikayelyan, besetzt Zelensky nach Gutdünken einfach nicht oder fast nicht mehr, ungeachtet ihrer Beliebtheit beim Publikum. Er besetzt sie vor allem dann nicht mehr, wenn sie nicht mehr 20 sind.

Jugendwahn macht sich breit: Die neuen ersten Solisten Vladimir Shklyarov und Maria Shirinkina wirken wie Kinder, nicht nur wegen ihrer Körpergröße. Zelensky selbst tanzt mit über 40 zwar im Rest der Welt auf Galas, aber nicht in München – anscheinend fürchtet er das Publikum an der Isar als besonders alterskritisch. Was waren das für Zeiten, als Peter Jolesch und Ivan Liska in „Zugvögel“ tanzten! Über Zelenskys sehr klassisch ausgerichtete Programmgestaltung wurde sowieso viel geklagt. Pioniere wie Richard Siegal hat er für die große Bühne nicht eingeplant.

Wilis in Bestform in "Giselle". Foto: W. Hösl

Nun könnte man in beiden Fällen natürlich auch die andere Schale der Waage befüllen. Sich erinnern, wie diktatorisch unter Liska die Tänzer Alen Bottaini, Roberta Fernandes und Lisa Cullum entsorgt wurden, oder dass Menschen sich sogar ohne Erklärung in Luft auflösten – man erinnere sich an die gefeierte Gözde Özgür. Dass eine gewisse Isolation herrschte. Dass die große Welt und ihre Stars Jahre lang fern gehalten wurden, und dass Polina Semionova längst keine Babyballerina mehr war, als sie endlich nach München eingeladen wurde.

Man könnte auch anbringen, dass das Bayerische Staatsballett jetzt, im Winter 2016/17, endlich technische Weltklasse erreicht hat und dass unter Zelensky die weißen Akte in „Giselle“ und „La Bayadere“ zum ersten Mal in der Geschichte der Kompanie so funktionieren, wie sie gedacht sind. Man könnte Sergej Polunin und Natalia Osipova anführen, die zu sehen Menschen im Rest der Welt Gebirge und Ozeane überwinden und ganze Monatsgehälter opfern, und an die wir uns gerade mal eben gewöhnen. Oder die Tatsache, dass anno 2016 erstmals ein Tänzer mit dunkler Hautfarbe in München den Albrecht tanzte. Und so ginge es hin und her.

Unter dem Strich bleibt, dass das neue Bayerische Staatsballett eine Kompanie ist, die es wert ist, geliebt zu werden. Genauso wie die alte, mit allen Vor- und Nachteilen. Das hat sie bewiesen. Igor Zelenskys Truppe ist keine seelenlose Ansammlung russischer Tanzroboter wie befürchtet. Sie arbeitet hart und schließt Freundschaft mit ihrem Publikum. Sie vereint Persönlichkeiten und bringt Sternstunden hervor. Dieses frische Gewächs noch länger mit dem Schnee vom vergangenen Jahr zuzuschaufeln, wäre kindisch.

Hören wir auf damit und umarmen wir es – das Neue.

Veröffentlicht am: 09.01.2017

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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