"América" in den Kammerspielen

Eine Mauer durchs Parkett

von Michael Weiser

Eine Scheinwelt hinter Mauern für die Reichen: Wiebke Puls, Jan Bluthardt, Stefan Merki und Peter Brombacher. Foto: Arno Declair

In seinem Roman "Tortilla Curtain" hielt T.C.Boyle den Amerikanern den Spiegel vor. Nur den Amerikanern? In "América", Stefan Puchers Inszenierung  der Roman-Adaption, kommt das Unbehagen mit dem Fremden in die Mitte der Kammerspiele.

Die Mauer ist eine Rampe. An dem Punkt der Erzählung, an dem die wohlhabenden Mittelklasse-Amerikaner ihre Siedlung mit einer Mauer umgeben, rücken auch in den Kammerspielen die Handwerker an. Da wird auf Einzelschicksale keine Rücksicht genommen: Wer auf der rechten Armlehne seines Sitzplatzes einen roten Punkt vorfindet, muss gehen. Er oder sie wird nicht aus dem Spiel genommen, so weit geht dann die Annäherung an die Wirklichkeit nicht, aber immerhin umgesiedelt: in den hinteren Bereich der Bühne, wo ein Lokal namens „el Coyote“ mit Neonschrift um Gäste wirbt.

Kaum haben dreißig, vierzig Besucher ihre Komfortzone im Parkett in Richtung Bühnenlokal verlassen, zimmern die Handwerker eine Rampe in den Zuschauerraum hinein. Das verstört kurz, gibt nur eine ganz, ganz schwache Ahnung von echtem Verlust, aber – immerhin. Ein stimmiges Bild, und nicht das einzige, mit dem Regisseur Stefan Pucher und seine Bühnenbildnerin Barbara Ehnes T. C. Boyles Roman „América“ (im Original: „The Tortilla Curtain“) auf die Bühne stemmen.

Blick in den Schaukasten: Einwanderer und bereits Angekommene brauchen ihre Zeit, bis sie einander begegnen. Foto: Arno Declair

Da wären auch die Schaukästen, die aus der Mittelzone der Bühne ein Diorama machen. Candido (Gonzalo Cunill) und seine schwangere Verlobte América (Sylvana Seddig) gehen darin hinter Glas ihrem prekärem Leben nach, gefangen zwischen Mexiko und der Siedlung am Rande von Los Angeles, sie haben sich verheddert in den Maschen des Tortilla-Vorhangs und erscheinen den wohlhabenden Siedlern erst einmal wie ethnologische Exponate. Wenn sie stören, dann kann man sogleich andere Tafeln davorschieben – und fort ist das Problem. Fürs erste zumindest, bis die Welten von Kyra (Wiebke Puls) und Delaney (Jan Bluthardt) sowie América und Candido so aufeinanderprallen, dass es nicht einmal mehr der Idealist Delaney verleugnen kann. So routiniert sich die Schauspielgranden der Kammerspiele ihrer Aufgabe widmen - so sehr nimmt "América" das Publikum mit.

Man kann sagen, Stefan Pucher und Barbara Ehnes hätten T. C. Boyle gut für die Bühne übersetzt. Das allerdings mit einem Text, der extrem gut dafür taugt. Wer Boyle mal in einer Lesung erlebt hat, weiß, wie gut die besseren seiner Romane (die dann aber auch ziemlich gut sind) für Performance taugen: Da federt, da vibriert jede Zeile, man muss für dieses pralle Leben ja noch nicht mal jedes Wort verstehen. Vor allem: T.C. Boyle drängt niemandem etwas auf, keine Lehre, er erzählt nur vom Leben. Als guter Beobachter hat er allerdings notiert, wie sich im alltäglichen Widersinn der große Wahnwitz widerspiegelt.

So wird dann doch ein großes Lehrstück aus diesem Abend. Man muss nicht groß abstrahieren, um von einem ummauerten Compound auf das viel größere Europa zu schließen. Boyle und Pucher haben es nicht darauf angelegt, die aktuellen Nachrichten machen aus dem Flüchtlingsdrama an der mexikanischen Grenze ein global gültiges Exempel. Es geht auch uns an. Und: Es gibt keine einfache Lösung.

Das ist die wahre Stärke dieses Abends: Die Gruppe der Siedler mag so paranoid erscheinen wie nur irgendwas, oder wie ein Schrebergärtner meinetwegen. Nur: Dylane hat ja auch keine Antworten. Sein Mitgefühl erstreckt sich im wesentlichen auf den Coyoten, der zwar fremd, aber nicht notwendigerweise von Übel ist. Im Ernstfall erweist sich für ihn der Fremde – als bedrohlich, als schrecklich. Jan Bluthardt spielt da keinen aus der Welt Gefallenen. Ein Stück, ein gutes Stück weit wird man sich in ihm wiedererkennen.

Das apokalyptische Finale trocknet Pucher ein. Dylane, Candido und América kreiseln auf der Rampe umeinander und um sich selbst, belauern sich. Mehr braucht's ja auch nicht, das Kopfkino läuft schon längst. Bis am Ende eine hilfreiche Hand Antwort signalisiert. Die Solidarität der Spezies Mensch? Stellt sie sich im Angesicht des Todes so zuverlässig ein? Ein bisschen Hoffnung bleibt ja doch noch.

Die im Dunkeln sieht man nicht - also uns: Blick aus dem Lokal "el Coyote" auf die andere Seite. Foto: Arno Declair

Veröffentlicht am: 23.05.2016

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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