Karl Stankiewitz über die Geschichte des Karlstors

Die alten Türme, von denen aus München modern wurde

von Karl Stankiewitz

Gustav Kraus, Ansicht des Karls Thors zu München, 1825, kolorierte Lithographie, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Graphik und Gemälde. Aus "Rumford, Rezepte für ein besseres Bayern", Thomas Weidner, Hirmer-Verlag

„Nix g'wiss woas ma net.“ Gewiss ist, dass dieser Münchner Spruch, der dem als „Finessensepperl“ bekannten Kramer und Liebesbriefboten Joseph Huber (1763 – 1829) zugeschrieben wird, auf einem Wapperl hoch droben am Karlstor zu lesen ist, wenn auch nur schwerlich. Und gewiss ist, dass sich eben dieses mittelalterliche Stadttor - wie derzeit andere berühmte Bauwerke - hinter einem Gerüst versteckt hat. Das Baureferat renoviert gerade derzeit die Fassaden. Sie sollen bis Mitte September 2015 in „historischem Altweiß“ erstrahlen. Auch die Steinschilder mit dem Sepperl und drei anderen Münchner Originalen sowie weitere Merkmale an der alten Mauer werden renoviert und besser erkenntlich gemacht. Die Arkadendurchgänge zwischen Stachus und Fußgängerzone bleiben derweil offen, nur die seitlichen Torbögen werden zur Sicherheit gesperrt. Ein Blick in die Historie des bekannten Bauwerks.

Die Geschichte des Karlstors ist ein starkes Stück Stadt- und sogar Staatsgeschichte. Erbaut wurde es bei der großen Stadterweiterung (1285 bis 1347) und erstmals erwähnt anno 1302, wie auch eine Inschrift kundgibt. Dieses Neuhauser Tor war ein verwinkeltes, schwer bewachtes und daher schwer passierbares Bollwerk zwischen einem inneren und einem äußeren Einlass. Es hatte einen hochragenden Hauptturm, zwei Flankentürme, Zwingmauer, Schildmauer, Vorwerk, Torflügel, Wachlokal, Zollstation, Fanghof, Wassergraben und hölzerne Brücken. Durch das 14 Meter breite Portal zwängte sich der gesamte Transitverkehr. Der große Baumeister Francois Cuvilliés schlug 1773 erstmals einen Umbau vor, natürlich im Stil des Rokoko.

Der reformfreudige Kurfürst Karl Theodor setzte genau hier zu seinem Stadtumbau an. Am 18. März 1791 beauftragte er seinen ideenreichen Staatsminister Graf Rumford, „das Neuhauser Thor so herzustellen, dass die bißherigen Umwege, und engen Durchgänge gänzlich vermieden, und der Thorweg in gerader Linie mit der Neuhauserstrasse über den Wall und bis auf den Punkt, wo sich die Augsburger und Landsberger Strassen trennen, geführt werde“. Was wie eine gewöhnliche Umbaumaßnahme schien, sollte nach kurfürstlichem Willen „nicht nur der Verschönerung der hiesigen Residenzstadt und Bequemlichkeit deren Einwohner, sondern auch zum Vortheil des in- und ausländischen Kommerzes dienen“. Der Stadtforscher Hans Lehmbruch sieht in dem Eingriff noch mehr, nämlich die Verwandlung einer kleinstädtischen Barockstadt in eine moderne Hauptstadt, ja eine „zweite Stadtgründung“.

Im Zuge des Umbaus nämlich stellte der Kurfürst das militärisch nicht mehr nutzenswerte und daher eingeebnete Festungsgelände vor dem Neuhauser Tor privaten Investoren als Bauland zur Verfügung. In seiner Residenzstadt herrschte wegen starkem Bevölkerungswachstum akute Wohnungsnot, die durch wiederholte Durchzüge französischer und österreichischer Truppen noch verschlimmert wurde. Dem genialen Rumford schwebte eine staatlich gesteuerte Stadtentwicklung vor. Ungeachtet vieler Proteste wurden die Schwarzbauten niedergelegt, als da waren: „Häuser, Hüthen, Barakken und Planken“. Auch der wöchentliche Getreidemarkt und die auf der Glacis gepflanzten Gärten und Plantagen wurden geräumt. So wurde München, bislang mittelalterlich geprägt, modern.

Das Tor, 1797 auf den Namen des Kurfürsten umbenannt, bildete den Kristallisationskern des neuen Platzes, der ebenfalls nach Karl Theodor und später nach einem Wirt obendrein „Stachus“ benannt wurde. Es sollte bald große Tage erleben, während sich der neue Karlsplatz zunächst nur zögerlich belebte. Am 12. März 1799 nahm ein neuer Kurfürst, Maximilian IV. Joseph von Pfalz-Bayern, vor dem triumphal ausgeschmückten Karlstor den Schlüssel der Stadt entgegen. Doch als Verbündeter Österreichs musste er ein gutes Jahr später nach Amberg retirieren, während die republikanische Armee des Napoleon Bonaparte mit 4000 Man unter „klingenten spiell und brennenten Lunten“ einrückte, von den mit dem Pfälzer noch unzufriedenen Münchnern vor dem Tor begrüßt.

Am 24. Oktober 1805 läuteten gar alle Glocken, als Napoleon selbst, nunmehr als Kaiser, mit prächtigem Gefolge in die Hauptstadt des mittlerweile verbündeten Landes Baiern einzog. Die ganze Stadt war beleuchtet und von zwei Malern dekoriert worden. Auf dem Karlsplatz strömte das Volk zusammen, Musik spielte, der Kaiser der Franzosen saß in einer sechsspännigen Kutsche. Er fuhr zur Residenz. Der Hausherr, Kurfürst Maximilian, war aber leider verreist. Silvester kam Napoleon noch einmal, um den Bundesgenossen zum König der Baiern zu proklamieren sowie seinen Sohn Eugène Beauharnais mit dessen ältester Tochter Augusta Marie zu vermählen.

Das umgebaute Karlstor erlebte nun herrliche Zeiten. Zum 25. Regierungsjubiläum von Max I. Joseph am 16. Februar 1824 fuhren Seine Majestät auf einem golden schimmernden Wagen, begleitet von berittenen Edelknaben und hundert geschmückten Wagen mit den Angehörigen seines Hauses und Vertretern aller Stände, durch die Stadt zum Karlstor, das in eine Triumph-Pforte verwandelt war. Der Rondellplatz davor blieb noch auf viele Jahre ein großer Exerzierplatz.

Carl August Lebschée, Karlsplatz und Karlstor in München im Zustand vor 1857/58. Lavierte Federzeichnung, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Graphik und Gemälde. Aus: „Rumford, Rezepte für ein besseres Bayern“, Thomas Weidner, Hirmer-Verlag

Ein neuer Stadtplaner, Ludwig von Sckell, empfahl dann das Niederlegen der verbliebenen vier Stadttore aus dem Mittelalter. An ihrer Stelle sollten Ehrenpforten nach französischem Muster entstehen. Aber alle Abbruchvorhaben scheiterten, zunächst an den Kosten – und an einer gewissen Nostalgie. Denn als die Romantik anbrach, wurden Burgen, Tore und „alte Thürme“ wieder interessant. Schließlich untersagte Ludwig I. jegliche Veränderung der Stadttore. Nur das Schwabinger Tor war nicht mehr zu retten, von dort aus wollte der König sein „Isar-Athen“ entfalten.

Am späten Abend des 15. September 1857 entzündeten sich in einem Haus, das der Eisenhändler Oskar Rosenlehner dicht ans Karlstor angebaut hatte, vier Zentner Schießpulver, die wohl für die Torwachen gelagert war. Durch die Explosion, die man bis Landshut hörte, wurden fünf Bewohner getötet, viele verletzt und der dominierende Wehrturm dermaßen beschädigt, dass er auf Wunsch von König Max II. abgetragen werden musste. Eine hässliche Lücke klaffte fortan zwischen den beiden Flankentürmen. Wieder wurde nach dem Totalabbruch des Ensembles gerufen. Dadurch sollte endlich Platz geschaffen werden für ein größeres, modernes Entrée zur Altstadt.

Der wohlhabende Lohnkutscher und Pferdehändler Franz Xaver Krenkl, der ein Kontorhaus am Karlsplatz besaß und der einmal seinem König Ludwig I. beim Überholen „Wer ko, der ko“ zugerufen hatte, galoppierte dank seiner Popularität an die Spitze der Modernisierer, wobei ihm ein Vers einfiel: „Pfui Teifi, reißts es ab, das Thor / Die Türm mitsamt den Zinken / Dass Ross und Mann net länger dort / In Staub und Koth versinken.“ Tatsächlich erteilte König Max II. Am 28. September 1857 die Genehmigung zum Abbruch des Turms. Allerdings sollten ihm erst noch Baupläne und Kostenvoranschläge für einen Neubau vorgelegt werden. Die Pläne sahen hohe Doppeltürme mit Fahnen obendrauf und gotischen Giebeln vor. Und abermals machten die Kosten – und Widerstände im Magistrat – einen Strich durch alle Abriss- und Neubaupläne.

Es kam zu einem Kompromiss: Im Sommer 1861 restaurierte der städtische Bauingenieur Arnold von Zenetti die beiden Ecktürme und verband sie durch einen gotischen Schwibbogen, wobei er auch die Durchfahrt erweiterte und beiderseits Fußgängerpassagen einfügte. Dafür musste allerdings das Haus der Torwache weichen - ein Spitzwegidyll. Zenetti hatte noch eine weitere Idee: Als Kragsteine ließ er im Auslauf des Torbogens den Krenkl, den Finessensepperl und zwei weitere Münchner Originale verewigen: den letzten Hofnarren Georg Prangerl und den Bassgeiger „Baron“ Sulzbeck, der im Hofbräuhaus nicht nur laute Musik, sondern auch lustige Sprüche machte; besonders beliebt war sein Landler „Huraxdax, packs bei der Hax“.

In späteren Jahren wurden am inneren Mauerwerk noch angebracht: ein Münchner Kindl, das bayerische Wappen und drei Musikanten, die Konrad Knoll 1866 für den Fischbrunnen am Marienplatz geschaffen und Stadtbaurat Herbert Jensen, der Schöpfer der Fußgängerzone, 1966 hierher geholt hat. Dem Karlstor zu Füßen postiert wurde außerdem das von Matthias Gastager aus Marmor geformte „Brunnenbuberl“; es wird von einem mit Weinlaub bekränzten Faun andauernd bespuckt und ist so nackert, dass in sittenfrommen Zeiten sogar der Polizeipräsident eingriff, Rufe nach einem Feigenblatt ertönten und dem 22jährigen Künstler dreihundert Hoserl geschickt wurden.

Nach Napoleon und seinem Tross zogen nur noch einmal fremde Truppen durch das jetzt schwer beschädigte Karlstor in die Bayernmetropole ein: Am 30. April 1945 gegen 16 Uhr passierten zwei Jeeps mit acht amerikanischen Soldaten von der Arnulfstraße her das Trümmerfeld, das einmal der Karlsplatz war – und bald wieder wurde. Und der Abriss des Tores wurde nur noch einmal gefordert: 1963, als das Chaos auf „Europas verkehrsreichstem Platz“ seinen Höhepunkt erreichte, war sogar das Amt für Öffentliche Ordnung für eine solche „Verkehrsbereinigung“. Doch das wichtigste Bauwerk am Stachus - und eines der geschichtsträchtigsten - konnte sich über Wirren und Umbrüche hinweg behaupten. Nur ein bisschen rissig und schmutzig ist es halt im Lauf der Zeit geworden.

Veröffentlicht am: 10.08.2015

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