Eine Kurzgeschichte von Herbert W. Franke

Die Hexe soll brennen!

von kulturvollzug

Von Herbert W. Franke

Die Männer waren längst nicht mehr so eifrig hinter Xandra her wie früher. Sie hatte einflussreiche Freunde gehabt – und diese wären durchaus imstande gewesen, ihre Warnungen zu beherzigen. Sie hatte allerdings feststellen müssen, dass in dem Moment, wo sie eine Warnung aussprach, der Einfluss aufhörte. Sie wirkte als das heißblütige Mädchen, als die leidenschaftliche Frau, das war aber auch schon alles.

Sie war immer noch stattlich, obwohl sie sich dem fünften Lebensjahrzehnt näherte. Ihr jetziger Liebhaber war ein verwitweter Handwerker, der sich wenig um das Gerede der Leute scherte. Obwohl Xandra allen Pflichten in Küche und Feld, die man ihr auferlegt hatte, pflichtgemäß nachgekommen war, traute man ihr alles Schlechte zu.

Am Abend, wenn er nicht gerade im Wirtshaus saß, kam Hervé oft in ihre Hütte und ließ sich ihre Zärtlichkeiten gern gefallen. Wenn sie auch nicht mehr so blühend aussah wie früher, so zeigte sie doch immer noch jene Leidenschaft, die alle Männer verrückt nach ihr gemacht hatte.

»Du bist wunderbar«, sagte Hervé. »Ich hätte dich heiraten sollen, und nicht Isabelle. Warum bist du eigentlich allein geblieben? Wir hätten Kinder gehabt, Kinder, vielleicht schon Enkel. Wir hätten glücklich leben können – bis ins hohe Alter.«

»Du hast doch Kinder und Enkel«, sagte Xandra.

»Ich hätte sie gern von dir gehabt«, sagte Hervé.

Sie schwiegen lange, lagen eng aneinandergeschmiegt auf dem Bett. Im Kamin schwelte ein Feuer – Braunkohle, denn Holz war rar geworden.

»Ich möchte keine Kinder haben, keine Enkel«, sagte Xandra. »Auf dieser Insel werden sie nicht glücklich leben können. Schon jetzt gibt es keinen Wald mehr, und das Wasser müsst ihr aus großer Tiefe herauf pumpen. Ihr habt die natürliche Harmonie zerstört, die wildlebenden Tiere ausgerottet. Nur noch die Ratten sind übriggeblieben. Sie werden die Herren dieser Insel sein, wenn ihr sie verlassen habt. Denn wenn ihr euch nicht bald besinnt, werdet ihr sie verlassen müssen.«

Hervé blickte sie lange an, dann sagte er: »Also stimmt es doch? Sie sagen, dass du den sechsten Sinn hast. Dass du Unheil voraussagst – und verursachst.«

»Ich habe nicht mehr gesagt, als jeder sehen kann, der seine Augen offenhält«, antwortete Xandra.

»Es macht mir nichts aus«, sagte Hervé. »Ich kümmere mich nicht um das, was die Leute reden. Ich möchte dich an mir spüren, und ich weiß, dass das gut ist.«

Auch Hervé nahm ihre Warnungen nicht ernst. War er bei der Bevölkerung auch nicht gerade beliebt, so gehörte er doch zu den Älteren, deren Wort etwas galt. Aber er würde dieses Wort nicht sprechen.

 

Eigentlich hätte der Beobachter seinen Posten verlassen können. Er war schneller zu einem Resultat gekommen, als er angenommen hatte, und mit diesem Resultat war er alles andere als zufrieden. Diese Art, die sich mit besorgniserregender Geschwindigkeit weiterentwickelte und über die Erde verbreitete, war mit Blindheit geschlagen. Sie war nicht eigentlich böse, was ihr fehlte, war die Einsicht.

Jetzt, wo er schon nahezu vierzig Jahre auf dieser Insel gelebt hatte, musste er sich eingestehen, dass er Zuneigung zu diesen so rührigen und so dummen Wesen empfand. Vielleicht hatten sie ihn nicht verstanden, vielleicht hatte er sich nicht deutlich genug ausgedrückt. Ob er es ihnen noch einmal klar zu machen versuchte?

 

Der Zug bewegte sich langsam durch das Dorf. Die Einwohner erwarteten ihn an den Türen, und wenn er vorbeigezogen war, schlossen sie sich an. Von Zeit zu Zeit flog ein Stein, doch er konnte nicht viel Schaden anrichten. Xandra saß in einem Käfig, aus Holz geschlagen, und dieser wurde auf einem Wagen zum Hauptplatz gezogen. »Hexe! Hexe!« scholl es aus der Menge, und dann lauter und lauter: »Verbrennt die Hexe!«

Der Scheiterhaufen lag bereit. Man hatte Xandra, an Beinen und Händen gebunden, auf die flache Mulde gelegt, die man oben freigelassen hatte. Es war eine Liegestatt, nicht viel anders als die Mulden in den Feldern, in den Wäldern, die Mulden der Liegestätten und Betten. Die Kanten der Holzscheite drückten sie in den Rücken, doch sie war die harte Unterlage gewohnt.

Und dann flogen die brennenden Pechspäne, das Feuer begann zu züngeln, glasig flammend und nach oben schlagend. Dann war Xandra vom Feuer eingehüllt. Erst schien die Hitze unerträglich, doch der Schmerz ließ rasch nach, die an der Oberfläche liegenden Sensoren wurden rasch zerstört. Sie spürte, wie das Gewebe aufquoll, abschmolz, wie sich Krusten lösten, verkohlten.

Die Menge unten konnte sie nicht mehr sehen, doch man hörte ein Prasseln und Zischen, das Angst einflößte. Eine graugelbe Wolke stieg auf wie ein Pilz und verlor sich erst hoch oben in der Luft.

Das Schauspiel war zu Ende, die Menge zerstreute sich. Die Angst, die plötzlich und unerklärlich aufgekeimt war – gerade in dem Moment, als man sie beseitigen wollte –, wirkte noch nach. Einige behaupteten, kurz vor dem Erlöschen des Feuers ein metallisch schimmerndes Ding flink wie ein Wiesel aus den verkohlten Resten heraus laufen und zwischen den Häusern verschwinden gesehen zu haben.

 

Dieser Text stammt ursprünglich aus dem vergriffenen Taschenbuch-Band "Der grüne Komet" von Herbert W. Franke und ist hier Teil einer kleinen Reihe mit diesem Autor. Das Buch ist zum Teil noch antiquarisch erhältlich, zum Beispiel hier. Die Geschichte ist auch in dem Band "Die Zukunftsmaschine" enthalten und kann als Neuauflage bei der mediacomeurope GmbH (mce) über Art Meets Science bezogen werden.

Einige Erläuterungen zu Autor und Anlass finden Sie bei der ersten Folge. Weitere Informationen zu Herbert W. Franke auf seiner eigenen Seite sowie bei Art Meets Science.

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Veröffentlicht am: 28.12.2012

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