Eröffnungswochenende Dance 2012

Steinalt und auf Krücken zum Schattenspiel

von kulturvollzug

Davor sehen, vielmehr ahnen wir Richard Siegal in einem Solo: unterdrückte Laute, schweres Atmen, Knurren, archaische Mitteilungen vor Erfindung der Sprache. Verstreute Mitteilungen von den Weltläuften, mit tänzerischer Bewegung unterstrichen.

Dann beginnt der schwarze Schwan, das Gegenbild des zauberhaften weißen Schwans, zu singen. Siegals Stimme ertönt, elektronisch verfremdet, zur Live-Musik von Lorenzo Bianchi. Das klingt schön, fremdartig, einen Gesang nach dem anderen stimmt er an, mancher Zuschauer wird schon von den Ortsnamen überfordert: Ypern? Wo war das gleich noch mal? Von den Schlachtfeldern Napoleons, des Sezessionskriegs und des Ersten Weltkriegs geht es zu Abraham Lincoln, von dort zur typisch amerikanischen Frage "if youre so smart, how come you ain't rich?" Siegal vermischt den guten alten Robert Frost (von ihm ist "Ovenbird" zu hören ) mit Gedichten von Carl Sandburg und einem Song von Swingmusiker Louis Jordan. Nur zu welchem Ende?

Schon bei Dance 2010 bemächtigten sich die Tanzpiraten in Siegals "CoPirates" spielerisch und fast schon chaotisch der Muffathalle, ohne feste Form, ohne aufdringliches Regelwerk. Und am Ende tanzte jeder. Diesmal hielt es die Zuschauer auf den Sitzen, Mitmachen war ja auch gar nicht vorgesehen. Mitgehen, ihm folgen aber wohl auch nicht: Dieser Abend Siegals bleibt in weiten Teilen rätselhaft.

Body Remix/Goldberg Variations: Die Ballettstange wird zum Gefängnis (Bild: Dance 2012)

Marie Chouinard schließlich kehrte mit "Body Remix / Goldberg Variations" in die 70er zurück, als dem Spitzentanz die eiskalte Ablehnung der modernen Szene mit voller Wucht entgegen schlug. Für ihre neun Tänzer sind die rosa Satindinger ein einziges, großes Problem. Mancher hat nur einen, so dass er hinken muss, andere haben gleich vier, auch an den Händen, und stapfen wie Dali-Giraffen über die Bühne.  Sie kommen mit immer neuen Krücken, Rollatoren, Rollhockern daher, nicht fähig, sich ohne Hilfe fortzubewegen. Gipfel der Schau gewordenen Neurose sind Hängevorrichtungen, an denen die in Fesselbänder gekleideten Folteropfer schwingen.

Die Bildsprache, gerade am neuen Aufführungsort BMW-Welt, ist überwältigend. Die elektronisch verzerrten "Goldberg Variationen" dagegen verstaubt provokativ, die Botschaft sinnlos. Denn der Clou am klassischen Ballett ist ja, dass die Technik den Tänzer nicht zu Boden wirft, sondern er sie bravourös beherrscht. Da die Kanadierin Chouinard bestimmt keine gescheiterten Klassik-Choryphäen abbilden will, kann eigentlich nur eines hinter der Inszenierung stecken: grummelige Bewunderung, wie sich diese doch eigentlich als vergreist abgetane Kunst so lange hält. Die Antwort geben ihre Protagonisten selbst. Es ist der ungebrochene Wille der Tänzer, sie zu praktizieren, dazu eine gute Portion Förderhilfe von außen. Keine Chance, Marie. Der Spitzentanz bekommt sein Hüftgelenk. Es zahlen genügen Leute ein.

Isabel Winklbauer, Jan Stöpel

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Veröffentlicht am: 29.10.2012

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