„Blumen stehlen ist kein Verbrechen“

von Florian Haamann

Gleich am ersten Abend eine Nobelpreisträgerin – das ist mal ein Einstieg für ein Literaturfest. Gemeinsam mit György Dragomán blickte Herta Müller zurück auf die Diktatur in Rumänien unter Ceaușescu.

Es sind Blumen; genauer gesagt zwei einsame, rote Blumen. Die einzigen Farbtupfer in einer grauen, gefühllosen Welt. Eine davon im Text Herta Müllers („Die rote Blume und der Stock“) und eine bei György Dragomán („Der weiße König“).

Sein Roman erzählt die Geschichte eines Jungen, dessen Vater von der Securitate in ein Arbeitslager verschleppt wird. Während das Kind noch glaubt, der Vater sei auf einer Dienstreise, ahnt das Publikum schon, dass die romantische Welt des Sohnes in Kürze zerspringen wird. Aber noch lässt Dragomán seinen Protagonisten Tulpen im Park vor dem Haus schneiden. Für die Mutter - zum Hochzeitstag; so wie es der Vater immer getan hat. Dann stehen die Blumen auf dem Tisch und zwei Geheimdienstoffiziere vor der Tür. Und als sie die Wohnung betreten weicht die Unschuld aus dem Leben des Jungen.

Herta Müller wirkt aufgewühlt während Ernest Wichner, der Moderator des Abends, den Text liest. Ihre Mimik lässt erahnen, wie nah es ihr geht, gedanklich zurück in die Diktatur gestoßen zu werden. In Kombination mit Dragománs nüchternen und zugleich gewaltigen Sätzen entsteht auch beim Publikum ein Gefühl der Beklemmung. Nachdem Dragomán das Bild der rumänischen Diktatur durch Kinderaugen skizziert hat, koloriert es Müller mit der Geschichte einer jungen Kindergärtnerin.

Sie beschreibt, wie die Diktatur schon bei den Kleinsten anfängt die Gehirne zu besetzen und dabei ein Klima der Angst erzeugt. Wenn die anderen Kindergärtnerinnen mit den Kindern spielen, dann nicht mit Bauklötzen oder Stofftieren, sondern mit dem Stock. Und wenn die Kinder singen, dann keine Kinderlieder, sondern die Nationalhymne. Nur eines kennt ein Sommerlied – vermeintlich: Kinder übergeben darin dem Diktator eine rote Blume, der bedankt sich mit einem Lächeln. Wie Hohngelächter erklingt es über der jungen Frau, die vergeblich nach einem Zugang zu den eigentlich noch unschuldigen Herzen sucht. Aber „es war zu spät bei den Fünfjährigen, die Zerstörung war vollständig“.

Dann, nach der Vorarbeit ihrer literarischen Figuren, durften die beiden Autoren das Bild mit ihren Erlebnissen einrahmen. Dragomán, Teil der ungarischen Minderheit in Rumänien, erzählt von ethnischen motivierten Schikanen in der Schule, von Eingängen nur für Rumänen und Eingängen extra für die ungarischen Schüler. Vom ewigen Kampf der Kinder; Straße gegen Straße, Hochhaus gegen Hochhaus und Ethnie gegen Ethnie – Ungarn gegen Rumänen. Davon, wie überrascht er war, als er später im Ausland mitbekommen hat, dass es auch Kinderspiele gibt die sich nicht nur um Krieg und Brutalität drehen.

„Die anderen Kinder haben mich täglich angepisst“, schleudert Herta Müller dem Publikum entgegen. Und, um das Entsetzen zu manifestieren, noch einmal: „Ja; angepisst. Weil ich die Kleinste war.“

Als György Dragomán zum Abschluss über seine Begegnungen mit der Literatur Herta Müllers sprechen soll, erzählt er, dass ihm sein Vater früh geraten hat, Müllers Bücher zu lesen. Damit er verstehe. Und er hat verstanden - verstanden was sein Vater ausdrücken wollte mit dem Rat „Freundschaft mit dem Selbstmord zu schaffen, weil er der einzige Weg zur Freiheit ist.“

Veröffentlicht am: 19.11.2010

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