Kammerspiele auf den Spuren der Gastarbeiter: Herzlich Willkommen in der „Bundesrepublik Bunker“

von kulturvollzug

"Willkommen in: München Hauptbahnhof" (Foto: Andrea Huber)

Wie war es damals in den 1960ern, als Gastarbeiter nach Deutschland zu kommen? Das Dokumentartheater-Projekt "Gleis 11" der Kammerspiele nimmt seine Besucher mit auf die ersten Schritte der Gäste hier in München. Und die führen, ganz unerwartet, tief unter die Erde.

1960, der Italiener Nicolo macht sich auf den Weg nach Deutschland. Er will Geld verdienen damit er sich endlich seinen Traum erfüllen kann: Eine eigene Ducati! In Italien ist es fast Frühling, Nicolo hat seine besten Schuhe an - in München liegt Schnee und der Weg endet erst einmal jäh.

Regisseurin Christine Umpfenbach hat für ihr Theaterprojekt „Gleis 11“ Geschichten wie diese aufgespürt. Geschichten von Menschen, die voller Hoffnung ihr Zuhause verlassen, nach Deutschland kommen und dann, nummeriert wie Vieh, aus dem Zug in einen Bunker direkt unter dem Gleis geführt wurden. „Sie dachten sie kommen hierher nach Deutschland und werden als Gäste empfangen, kommen vielleicht sogar in einen schönen Saal; sie dachten Deutschland ist das Paradies. Und dann war das erste das sie gesehen haben dieser Bunker, der sehr dunkel und feucht war, vollgestopft mit bis zu tausend Menschen, das war ein Riesen-Schock! Sie hatten ja auch noch die deutsche Geschichte in den Köpfen“, erklärt Umpfenbach.

Gastarbeiter Nicolo mit seiner Frau Elisabeth (Foto: Andrea Huber)

Dass das Arbeitsamt die riesigen Räume des Bunkers als Büro zweckentfremdet, um die Massen, die am Hauptbahnhof ankommen, sofort und effizient zu koordinieren hat, gerade vor diesem historischen Hintergrund – der zweite Weltkrieg war gerade mal 15 Jahre her – einen besonders dunklen Beigeschmack: nummerieren, kategorisieren, und einteilen - die Gastarbeiter verstehen kaum Deutsch, sie sind verunsichert, haben Angst. Das wird klar wenn Nicolo von seinem ersten Eindruck erzählt: „In einem Moment war ich so traurig, ich habe mich gefragt: Warum bin ich hierhergekommen? Sie haben uns einen Becher heißes, braunes Wasser gegeben. Schwer zu sagen, was das war.“ Schon das, was die Deutschen Kaffee nennen ist den Menschen vollkommen fremd.

Diese Verzweiflung, die Angst, das Unverständnis soll auch das Publikum bei „Gleis 11“ nachfühlen. Deshalb werden die warmen, weichen Theaterstühle eingetauscht gegen eine Zeitreise in die 60er und 70er Jahre. Christine Umpfenbach erklärt ihr Projekt: „Treffpunkt ist erst mal Gleis 11 am Hauptbahnhof, dort werden die Zuschauer empfangen von Damen, die so aussehen wie damals. Von denen bekommen sie einen Arbeitsvertrag mit Nummer und einen Koffer. Dann geht’s runter in den Bunker direkt unter Gleis 11. Je nach Nummer wird das Publikum dann in verschiedene Räume geschickt, das heißt kein Zuschauer wird die gleiche Tour haben, die Leute werden auseinander gerissen, wie das auch früher war. Der Mann musste oft mal in eine andere Stadt als die Frau.“

So sitzt man dann also im Bunker, es ist kalt, grau, steriles Neonlicht zeichnet die Kulisse, in der so viele Leben neu angefangen haben. Fast ist es, als könne man riechen, wie sich die Gerüche der verschiedenen Menschen mit der feuchten, beißenden Bunker-Luft vermischen. Und die Darsteller spielen nicht nur echt, sie sind es tatsächlich auch. Zeitzeugen wie Nicolo, die ihre Geschichte nacherzählen. Jeder einzelne Gesichtszug, jede einzelne Sorgenfalte zeigt ihr Schicksal.

"Nummerieren, kategorisieren, und einteilen" - die ersten Schritte in Deutschland. (Foto: Andrea Huber)

Genau das macht für Regisseurin Umpfenbach die magische Atmosphäre aus. Schauspieler könnten das nicht so, es wäre aufgesetzt. Aber Nicolo und die anderen, sie „sind die Geschichten“. Und so kann Nicolo seine Tränen nur mit Mühe zurückhalten, wenn er erzählt. Es ist eine Mischung aus Trauer, Freude, Wehmut und Sehnsucht nach der Jugend. Eigentlich wollte er nur zwei Jahre bleiben - bis er das Geld für seine Ducati verdient hat.

Doch dann kam alles anders. Seine Frau Elisabeth sitzt neben ihm, im Hochzeitskleid, und übersetzt:„ Ma prima che passassero due anni, incontrò mia moglie Elisabeta. - Aber bevor die zwei Jahre vorbei waren, habe ich meine Frau Elisabeth kennengelernt. Adesso mi era chiaro: ho una moglie ma non avrò mai una Ducati - Jetzt wurde mir klar: Ich werde eine Frau haben, aber nie mehr eine Ducati“.

Ein paar Meter weiter oben, exakt über der Stelle an der Nicolo vor rund 50 Jahren seine erste befremdliche Begegnung mit deutschem Kaffee hatte, wird heute Karamell-Macchiatto in Pappbechern an gestresste Großstädter verkauft. Unten im Bunker ist es in diesem Moment kaum vorstellbar, dass da oben noch eine andere Welt ist, in der Studenten in ihre Cheeseburger beißen und Geschäftsleute in hochmodernen ICEs nach Berlin, Hamburg und Hannover rauschen.

Jede Stufe auf dem Zurück in diese Welt nimmt auch ein bisschen Druck von der Brust, trotzdem will man sich irgendwie nicht trennen von Elisabeth, Nicolo und den anderen. Christine Umpfenbach wollte einen Ort der Begegnung schaffen. Der Zuschauer ist dankbar für jede einzelne. Die Kälte des Bunkers steckt noch tief in den Knochen - aber die Wärme der Geschichten bleibt.

Eveline Kubitz

Vorstellungen: 30. und 31. Oktober, 06., 11., 12., 19. November, 02., 10. Dezember jeweils um 20 Uhr im Bunker am Münchner Hauptbahnhof, Treffpunkt: Gleis 11

Veröffentlicht am: 29.10.2011

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Helmut Krüger
31.10.2011 09:46 Uhr

Der bewusst mehrdeutige Name ihres Feuilletons könnte nicht besser zu dem passen, um das es hier geht und was in diesem Artikel beschrieben wurde: Der beste Fahrplan - bspw. bei der Straßenbahn - ist der, den ich mir nicht merken muss, irgendwann kommt die Linie und sie bringt mich dahin, wohin ich will und der elendste ist der, der Menschen in Strukturen hinein zwingt, dass sich Menschen an technisch organisierte Gegebenheiten anzupassen, nicht aber diese \"Gegebenheiten\" ihren Ursprung im Menschen hätten.

So auch hier: Es war der störungsfreie Ablauf des Hauptbahnhofs ansonsten, der die potenziell Störenden unter die Erde zwang und die bloß numerische Benennung des Gleises weckt Assoziationen noch zu etwas anderem, den Verschiebebahnhof Grunewald, dort Gleis 17.

Dies ist keine Gleichsetzung, wohl aber die Vergegenwärtigung des gemeinsamen dahinterliegenden Gedankens.

Ist die Enge der überlieferten Stadt eine Störung für den, der lenkt, dass er immer wieder drei und viermal mehr lenken muss, als wenn es nur geradeaus geht - einem Denken, wovon wir uns seit den 1980ern städtebaulich verabschiedet haben - ...

... oder ist das sperrig Erscheinende im Vollzug Grund, sich über die Richtung klar zu werden, die eine andere wird, verdrücken sich die Protestierenden nicht im Haus, störungsfrei auf abgelegenen Höfen, sondern machten die Straße wieder zur Straßen von Menschen, bei den Feiernden, bei den Ankommenden gleichwohl?

Aus dem Großen Bahnhof, der es hätte sein können, wären das tatsächlich Gäste gewesen, wären \"die\" tatsächlich als Gäste gemeint gewesen, wurde eine Registrierung und Katalogisierung.

Wer kommt an, wer nicht gebührend empfangen wird, wie schwer können wir einen Ort lieben, bei dem wir uns bei der Ankunft unter Schirme verdrücken müssen, weite Sprünge über ausgedehnten Pfützen machen müssen?