Ein brutaler Streifzug durch drei Generationen – „wie den Vater nicht töten“ im I-Camp.

von Florian Haamann

[caption id="attachment_533" align="alignright" width="225" caption="Gabriele Graf, Kurt Bildstein, Renat Melamad, Phillip Weitzendörfer, Viktor Rencelj; Foto: Ulrich Stefan Knoll"]Gabriele Graf, Kurt Bildstein, Renat Melamad, Phillip Weitzendörfer, Viktor Rencelj; Foto: Ulrich Stefan Knoll[/caption]Was passiert mit einer Generation, der die Identität genommen wird und wie wirkt dieses Trauma in den folgenden Generationen nach?

Diese Frage beantwortet das Freie Theater München und orientiert sich dabei an der Geschichte einer türkischen Familie - und über allem schwebt übermächtig und unüberwindbar Mustafa Kemal Atatürk.

Ganz selten kommt es vor, dass ein Theater sich ins Bewusstsein ruft, welche Macht es über seine Zuschauer hat - noch seltener kommt es vor, dass es diese Macht wunderbar schamlos ausnutzt um das Publikum an seine Grenzen zu treiben.

Die Premiere von „wie den Vater nicht töten“ im I-Camp war so ein Abend.

Inszeniert wurde das Stück vom Freien Theater München unter der Regie George Froschers, inhaltlich setzt sich das Stück mit einem Poem der beiden deutsch-türkischen Autoren Berkan Karpat und Zafer Şenocak auseinander.

„Wie den Vater nicht töten“ ist ein Stück über Identitätsfindung, Entwurzelung und den Wahnsinn dazwischen.

Da der einzelne Besucher als Teil des Publikums davon ausgeht, über ein Art kollektive Publikumsidentität zu verfügen werden zu Beginn erst einmal die Verhältnisse durcheinander gewirbelt.

Statt auf den bereitstehenden Stühlen sitzen zu dürfen, müssen sich die Zuschauer im Raum verteilen, im Rücken eine Videoinstallation, die eine öde, sandige Felslandschaft zeigt.

Das geht solange, bis die zwei bulligen Schauspieler, die bisher mit ihren Küchenmessern zwei Holzblöcke bearbeitet haben, die Stuhlreihen freigeben.

Ein Unbekannter beginnt hinter einer schwarzen Wand einen Monolog, das Stück beginnt also erneut und wieder bleiben die Zuschauer vorläufig vom Geschehen ausgeschlossen, zumindest visuell.

In diesem Monolog fällt der Schlüsselsatz des Stückes: „Atatürk hat meinen Vater getötet!“

Stabile Verhältnisse für das Publikum treten erst dann ein, als der Vaterlose (Kurt Bildstein) vor die Wand tritt. Vielmehr müsste er hier eigentlich der Identitätslose genannt werden, denn was Atatürk ihm wirklich genommen hat ist seine Heimat, seine Tradition, seine Wurzeln.

Mit dem brachialen Versuch, die Türkei gen Westen zu führen, scheint Atatürk der nachfolgenden Generation den Boden unter den Füßen entzogen zu haben.

Verzweifelt bewegt sich der Entwurzelte auf dem letzten Rest der Vergangenheit, auf der Bühne symbolisiert durch ein ca. zirka zwei mal zwei Meter großes Quadrat aus Kaffeebohnen.

Seine wirren Monologe und Dialoge mit einer Frau aus seiner Generation (Gabriele Graf) treiben den Zuschauer an die Grenzen der Belastbarkeit. Scheinbar ohne Sinn und Ziel diskutieren und räsonieren die beiden über den Mokkakonsum Atatürks, Kaffeesätze, Krieg, Wiederholung, Väter, Froschmänner und sonst noch einiges.

Solange, bis man als Zuschauer nicht mehr weiß wo einem der Kopf steht – eine erneute theatrale Entwurzelung.

Als Zuschauer war ich mir nicht sicher, ob das Stück einfach nur gut geplant ist oder schlicht wahnsinnig.

Auf jeden Fall ist es streckenweise qualvoll lang, fast unerträglich. Das liegt aber auch daran, dass die beiden Schauspieler unheimlich präsent sind in ihrem Spiel. Deshalb ist es so gut wie unmöglich, sich ihrem Spiel zu entziehen. Eine Schauspielkunst, die sich nicht mit konventionellen Inszenierungen an großen Häusern vergleichen lässt.

[caption id="attachment_535" align="alignleft" width="225" caption="Renat Melamad, Viktor Rencelj, Phillip Weitzendörfer; Foto: Ulrich Stefan Knoll"]Renat Melamad, Viktor Rencelj, Phillip Weitzendörfer; Foto: Ulrich Stefan Knoll[/caption]Es folgt der Auftritt der jüngsten Generation, einer Gruppe von fünf Jugendlichen, die stets gemeinsam auf der Bühne ist. Sie scheinen ihre Identität irgendwie gefunden zu haben, manifestiert in ihrer Zugehörigkeit zu einer kleiner Gruppe. Wie zuvor Atatürk ihre Großvatergeneration, töten sie die eigene Elterngeneration. Damit scheinen sie das Werk Atatürks erst zu vollenden.

Nur eine einzelne Kaffeebohne hebt jeder von ihnen auf, mehr Tradition bleibt dieser Generation nicht mehr.

Zum Abschluss wird abermals das Publikum aus seiner während der letzten gut 60 Minuten gewonnen, neuen Identität gerissen - oder doch eher in ihr bestärkt?

Licht und Schauspieler scheinen überhaupt nicht auf den Applaus des Publikums zu reagieren. Völlig unbeeindruckt geht das Licht während des ersten Applauses wieder an, die Schauspieler spielen weiter; hören wieder auf, dafür bleibt das Licht an. Erneuter Applaus, die Schauspieler verlassen die Bühne. Das Publikum, wie es das gewohnt ist, wartet darauf, noch einmal klatschen zu dürfen. Aber die Schauspieler denken nicht daran, nochmal aufzutauchen.

Statt dessen läuft im Rücken der Zuschauer wieder ein Video, diesmal nicht mehr die Ödnis des Anfangs, sondern Bilder von Hochhäusern.

Minutenlang bleibt das Publikum auf den Stühlen sitzen und weiß nicht, wie es reagieren soll.

Atatürk hat gewonnen.

Weitere Vorstellungen 30./31. Juli und 03./04. August, jeweils im 20:30

Mehr Infos zum Stück auf http://www.i-camp.de

Veröffentlicht am: 29.07.2010

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